»Nora, ich ...«
»Ist schon okay. Spar‘s dir! Ist doch eh immer das Gleiche ...«
Für heute hatte ich genug.
Der Abend war gelaufen.
Ich wollte nichts mehr hören.
Die Andere
Ich schreckte auf. War ich gerade tatsächlich über meinen Aufzeichnungen zum Thema Ökologie eingeschlafen? Hektisch kramte ich auf meinem Tisch nach meinem Handy. Meine verschlafenen Augen tränten und ich stieß mit der Hand gegen meine Tasse. Der kalte Tee verteilte sich gleichmäßig innerhalb von Sekunden über meinen Notizen.
»Fuck!« Ich schob alles auf einen Stapel und rettete mein Smartphone, das schon die ganze Zeit wie wild vibrierte.
»Ja?«, brummte ich sauer in den Hörer.
»Nora? Was ist denn los?« Es war Sebastian und er hörte sich mehr als besorgt an.
»Hi Sebastian, mir ist nur gerade was umgekippt. Was gibt‘s?«
»Mensch, du bist ja anscheinend ganz schön mies drauf.«
Frag doch mal deinen ach so beschäftigten Bruder, warum, dachte ich mir, hielt aber meinen Mund.
»Ich schreibe in den nächsten Tagen sämtliche Abiturarbeiten. Wie soll ich schon drauf sein?«
»Als müsstest du dir deshalb groß Gedanken machen. Hast das doch eh schon so gut wie in der Tasche.« Wenn er meinte ... Ich war mir da nicht so sicher. »Komm schon, Nora, du musst entspannen, sonst wird das morgen nie was. Lass uns doch auf einen Cocktail treffen?«
»Sebastian, ich werde garantiert nicht kurz vor einer Klausur Cocktails mit dir trinken gehen.«
»Wer sprach denn von Cocktails? Ich habe lediglich von einem gesprochen.«
»Als wäre es jemals bei einem geblieben. Und selbst wenn, ich werde trotzdem nicht mit dir in eine Bar gehen, wenn von den nächsten Tagen meine Zukunft abhängt.«
»Dann komm her zu mir. Ich mach dir einfach hier einen Cocktail. Mama hat Bolognese gemacht. Ist eh viel zu viel. Ich glaube, sie kocht immer noch für vier Personen. Also komm her. Zu Abend essen musst du doch eh.«
Er hatte mich fast.
»Mensch, Sebastian, ich muss echt pauken.«
»Ach komm schon, was du jetzt nicht im Kopf hast, bekommst du in den nächsten Stunden auch nicht mehr rein.«
Ich seufzte resignierend und Sebastian spürte wohl, dass ich in meiner Meinung wankte.
»Noraaaa, Süße, komm schoooon.«
»Okay. Ich bin gleich da.«
»Yippie. Bis gleich!«
Daraufhin legte er sofort und ohne sich zu verabschieden auf. Wahrscheinlich befürchtete er, dass ich es mir ansonsten doch noch anders überlegen könnte. Gib der Alten ja keine Chance, noch mal über alles nachzudenken. Geniale Strategie.
Aber eigentlich hatte er ja auch recht. Ob ich nun über meinen Notizen schlafen oder einfach bei ihm ein paar Nudeln essen würde, machte dann wohl auch keinen großen Unterschied. Ich hatte wirklich genug geackert und jetzt etwas Entspannung verdient. Und dann würde ich heute Abend früh ins Bett gehen und in den nächsten Tagen eine super Leistung abliefern.
Tschakka. Das waren doch mal ein Vorsatz und ein erfolgversprechender Plan.
Keine halbe Stunde später klingelte ich an der Haustür. Mittlerweile war es schon nach 19 Uhr und demnach stockdunkel. Wann würden die Tage endlich wieder länger werden? Da wurde man ja depressiv. Sebastian öffnete die Tür und nahm mich sogleich ungestüm in die Arme.
»Schön, dass du da bist.«
»Als hätte ich eine Wahl gehabt ...«
Sebastian lachte und zog mich in den warmen Flur hinein. »Komm, hab alles schon gerichtet und vorbereitet.« Er war ziemlich euphorisch und freute sich so offensichtlich, mich zu sehen, dass es ansteckend war. Ich musste einfach lachen und schloss ihn noch mal in meine Arme.
»Danke, dass du mich aus der Wohnung geholt hast. Ich glaube, das war eine gute Idee.«
»War es mit Sicherheit. War ja auch meine.« Er grinste wie ein Honigkuchenpferd und reichte mir ein großes Glas mit Strohhalm und Schirmchen. »Hier, dein Caipi, und jetzt setz dich. Ich hol das Essen.«
Biancas Essen war immer lecker. Richtige Hausmannskost vom Feinsten. Immer deftig, immer reichlich. Und noch besser schmeckte es natürlich mit meinem besten Freund zusammen. Nur einer fehlte zu meinem Glück. Aber der musste wohl immer noch arbeiten. Zum Verrücktwerden.
Als Sebastian gerade Limetten für einen zweiten Caipi stampfte, hörte ich die Eingangstür ins Schloss fallen und Schritte im Flur. Jan war angekommen, betrat den Flur und zog sich erschöpft die Schuhe aus. Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und hing dann seine Jacke an die Garderobe. Er hatte mich noch nicht mal bemerkt.
»Hey Jan, deine Freundin ist da«, rief Sebastian und ich sah Jan zusammenfahren.
»Nora?«
»Hast du noch eine andere Freundin?«, gab Sebastian etwas genervt zurück. Jan kam in die Küche gelaufen und lächelte schüchtern.
»Hey, schön dich zu sehen.« Er beugte sich nach vorne und küsste mich zur Begrüßung.
»Wenn ich dir nicht hinterherrenne, sehen wir uns ja gar nicht mehr«, sagte ich etwas zickiger als beabsichtigt. Jan verzog das Gesicht wehmütig und ich bemerkte zum ersten Mal, wie verdammt müde und kraftlos er aussah. Fast schon krank. Seine Augen waren rot geädert und tiefe Schatten zeichneten sich unter ihnen ab. Überhaupt wirkte er sehr blass. Vielleicht sollte ich nicht zu streng zu ihm sein. Ein Blinder mit Krückstock konnte erkennen, dass es ihm nicht gut ging. Hoffentlich brütete er nichts aus.
»Ich geh erst mal duschen«, gab Jan in einem resignierten Ton zurück und schlurfte mit kleinen Schritten Richtung Badezimmer. Ich schaute ihm besorgt hinterher.
»Ist bei euch alles okay?« Sebastian sah mich besorgt und mit gerunzelter Stirn an. Plötzlich spürte ich, wie mir Tränen in die Augen schossen. Verdammt, das wollte ich nun wirklich nicht. Sebastian nahm meine Hand und umschloss sie mit seiner.
»Nora?«
»Ist schon okay. Wir sehen uns nur in letzter Zeit nicht so häufig und wenn, dann muss er weg oder ist mit den Gedanken immer bei der Arbeit. Ist momentan alles etwas schwierig.«
»Er hat einen anstrengenden Job, das ist kaum zu übersehen. Aber weiß er, dass es dich so sehr belastet?«
»Ich denke schon. Es häuft sich in letzter Zeit. Ich habe irgendwie Angst. Angst, ihn zu verlieren. Es kommt mir jetzt schon so vor, als wäre da eine Distanz, als würden wir uns immer mehr voneinander entfernen.« Ein Schluchzer entfuhr mir und ich schniefte.
»Das bildest du dir doch garantiert nur ein.«
»Vielleicht ...«
Ein Summen unterbrach unsere Unterhaltung. Beide griffen wir gleichzeitig an unsere Hosentaschen. Wir waren eben die typische digitale Generation. Ich musste widerwillig lachen, weil unsere Reaktion die gleiche war. Doch war es keines unserer Handys, das vibrierte. Ich folgte dem Geräusch, bis ich vor Jans Jacke stand, die er einige Augenblicke zuvor erst ausgezogen hatte. Ohne mir darüber Gedanken zu machen, griff ich in die Innentasche und holte sein Smartphone hervor.
Fernanda M. stand auf dem Display. Dazu ein Bild von einer rassigen Schönheit mit dunklem Teint und schwarzem, gewelltem Haar. Spanierin oder Italienerin. Aber das hätte man sich ja bei dem Namen schon denken können. Ich gab ein Schnauben von mir, das meine Abneigung deutlich wiedergab. Ich war sauer. So unglaublich wütend und wusste gerade nicht so recht, wohin mit diesem Gefühl. Jan war doch eben erst nach Hause gekommen. Musste er denn schon wieder von seiner Arbeitskollegin belästigt werden? Das war doch nicht normal! Jeder Mensch hatte das Recht auf einen Feierabend. Aber Jan konnte man ja anscheinend 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche arbeiten lassen. Das ging nicht. Das ging zu weit! Kurz überlegte ich, das Telefonat anzunehmen und genau das zu sagen. Dann siegte aber doch die Vernunft und ich steckte sein Handy einfach wieder zurück in die Jackentasche. Ich würde mich doch nur lächerlich machen. Damit musste er schon selbst klarkommen.
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