»Wieviel Uhr ist es?«
»Ähm, 12:30 Uhr«
»Jan wollte die Mittagspause mit mir verbringen«, rief ich erschrocken aus und sprang auf. Dabei stolperte ich fast über einen kleinen Hocker, der sich mir mit voller Absicht in den Weg gestellt haben musste.
»Huch!« Ich richtete meinen Pullover und winkte Pablo und den anderen zum Abschied. »Bis morgen dann.«
Ich lief hinaus und sprintete die Straße entlang. Jan und ich hatten ein kleines Stammlokal, in dem es einfache Snacks gab. Außerdem lag es in Fußnähe zu meiner Schule. Der perfekte Treffpunkt. In den letzten Monaten hatten wir uns immer mal wieder hier verabredet. Kurz bevor ich bei dem Lokal ankam, vibrierte jedoch mein Handy und brachte meinen Laufschritt aus dem Takt. Ich blieb stehen und kramte mein Smartphone aus der Hosentasche.
Eine SMS von Jan.
Och nein, nicht schon wieder.
»Ich schaffe es nicht. Tut mir wirklich leid! Ich mach‘s wieder gut.«
Ich plusterte die Backen auf und zog eine beleidigte Schnute. Bullshit!
Ich antwortete nicht. Das wäre definitiv nicht der richtige Zeitpunkt. Ich war gerade wirklich sauer. Und in dem Zustand eine SMS zu schreiben, war alles andere als klug. Ohne mindestens ein Schimpfwort würde ich nicht auskommen.
Ich ging geknickt weiter in Richtung meiner Wohnung. Sollte ich mir irgendwo was zu essen besorgen? Ein Sandwich oder einen Burger zum Mitnehmen? Eigentlich hatte ich gar keinen Hunger mehr. Verdammt. Immer wenn Jan eine Verabredung absagte oder mal wieder durcharbeiten musste, war meine Laune im Keller. Ich fühlte mich gleich vernachlässigt und einsam.
Ich war doch schon immer alleine gewesen. Meinen Vater hatte ich nie kennenlernen dürfen und meine Mutter hatte weder Zeit noch Nerven für mich gehabt. Die Drogen hatten sie vollkommen vereinnahmt. Geld beschaffen, Heroin und Crack kaufen, rauchen, spritzen, im Rausch dahinvegetieren. Das war ihr Leben gewesen. Sämtliche Versuche, von den Drogen wegzukommen, waren gescheitert. Und im Endeffekt hatten sie sie getötet.
Einsamkeit war mir nicht fremd. Ich hatte zwar immer Menschen um mich herum, aber ich gehörte nie so recht dazu. Erst seit ich Jan und seine Familie kannte, hatte sich das geändert. Es war wohl wirklich so, dass man nichts vermissen konnte, was man vorher nicht gehabt hatte.
Jetzt, wo ich erahnen konnte, wie es war, eine Familie zu haben, eine richtige Familie, in der man füreinander da war, mochte ich nie wieder ohne sein.
Etwas berührte mich an der Schulter und kam schnaufend neben mir zum Stehen. Pablo bemühte sich, Luft zu holen, und stützte sich außer Atem auf seinen Knien ab.
»Pablo? Was machst du denn hier?«
»Ich … hab dich … von weitem gesehen und …«
»Du hättest doch rufen können.«
»Hab ich ja …« Er erhob sich und fuhr sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn. »Aber du hast mich nicht gehört.«
»Oh, sorry. Ich war wohl in Gedanken.«
Erstaunlich.
»Was ist denn mit deinem Date? Wolltest du dich nicht mit deinem Freund treffen?«, fragte Pablo ein wenig zu neugierig.
»Wurde versetzt«, gab ich eingeschnappt zurück und lief weiter. Pablo folgte mir mit einem mitleidigen Gesichtsausdruck.
»Und nun?«
»Was, und nun? Jetzt geh ich heim und bin beleidigt.«
Pablo lachte und pikste mir mit dem Zeigefinger gegen den Oberarm. Ziemlich nervig. Aber das war mir noch lieber als die ständige Boxerei. Eigentlich war es mir auch lieber, als alleine Trübsal zu blasen.
»Und was ist, wenn wir noch einen Kaffee trinken würden? Irgendwo hier in einem Café?« Er schaute mich gespannt von der Seite an und kickte dann einen Stein vor sich weg. Ich war skeptisch.
»Ähm, ich sollte wirklich nach Hause gehen«, gab ich leise zurück. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass es nicht richtig wäre, mit ihm alleine in ein Café zu gehen. War das nicht schon fast so etwas wie eine Verabredung?
»Und einen coffee to go auf dem Nachhauseweg? Ich begleite dich.« Er schaute wieder ganz hoffnungsvoll und ich konnte das nicht so recht nachvollziehen. Ich zuckte mit den Schultern. Gegen einen coffee to go sprach ja nichts.
»Okay.«
Er griff nach meiner Hand und zog mich bis zur nächsten Straßenecke einfach hinter sich her.
»Da hinten ist ein Starbucks. Komm, ich lade dich ein.«
Widerworte hatten bei ihm scheinbar keinen Sinn, wurden anscheinend nicht geduldet. Da ich aber eh immer pleite war, traf sich das eigentlich gut.
Einige Minuten später hatten wir beide einen großen warmen Becher Latte Macchiato in der Hand und liefen nebeneinander die Fußgängerzone entlang.
»Und? Weißt du schon, was du danach machst?«
»Wonach? Nach dem Kaffee?«
»Nach dem Abitur.« Er holte mit der Faust aus und ich wich seinem Hieb geschickt aus. Dann lachten wir beide. Haha, ich hatte dazugelernt.
»Was hat mein Arm dir eigentlich getan? Warum boxt du mich andauernd?« Die Frage war sowas von überfällig.
»So oft ist es auch mal wieder nicht«, antwortete Pablo etwas eingeschüchtert.
»Nicht oft?« Ich zog eine Augenbraue skeptisch in die Höhe. »Ständig!«
»Keine Ahnung. Ist eine doofe Angewohnheit. Ein Tick oder so.« Er rieb sich über die Augen und ich musste wieder lachen. So verlegen kannte ich ihn gar nicht. Fast niedlich.
Wir liefen einige Sekunden schweigend nebeneinander her, bevor er seine Frage wiederholte.
»Was sind denn nun deine Pläne nach dem Abi?«
»Ach so. Ja, ich habe ein paar Ideen, mich aber noch nicht endgültig entschieden.«
»Zum Beispiel?«
»Na ja, Studium oder Ausbildung. Irgendwas im kreativen Bereich auf jeden Fall. Du?«
»Ich würde gerne Jura studieren, kommt jetzt ganz stark auf den Abischnitt an. Sonst nimmt mich ja keine Uni.« Ich nickte und versuchte, mir Pablo im eleganten Anzug als Anwalt vorzustellen. Seltsam. »Und dein Freund? Zieht ihr dann zusammen?«
»Ich weiß nicht. Darüber haben wir noch nicht gesprochen. Vielleicht.« Pablo schwieg und ich nippte an meinem Kaffee.
»Aber es läuft alles gut so zwischen euch, oder?«
Ich schnaufte etwas genervt und verdrehte die Augen.
»Ja, alles gut. Stress gibt’s doch immer in einer Beziehung und, na ja, momentan ist es gelinde gesagt etwas schwierig.«
»Warum denn?«
»Er arbeitet viel und ich sollte dafür wohl mehr Verständnis haben.«
Hatte ich ja. Fast immer. Aber manchmal fuchste es mich dann eben doch. Vor allem, wenn wir uns verabredet hatten und er mich sitzen ließ. Wenn ich mich auf etwas freute. Auf ihn freute.
»Mmmh ... er vernachlässigt dich?«
»Nein, so ist es nun auch wieder nicht … ach egal. Lass uns über was anderes sprechen.«
»Aber du liebst ihn, oder?«
»Sehr.«
Enttäuschung
Endlich Wochenende. Wie hieß noch mal das Gegenteil von Burnout? Boreout. Davon hatte ich tatsächlich mal gelesen und konnte es jetzt voll und ganz nachvollziehen. Aber nun würde ich selbst etwas gegen die Langeweile in der Schule tun. Ich musste dringend für das Abitur lernen. Dringendst sogar!
Zwar hatte ich mir schon einiges eingeprägt und Dinge wie den Zitronensäurezyklus für Biologie waren mir eh in Fleisch und Blut übergegangen, aber kurz vor der ersten Abi-Klausur am Dienstag musste ich vor allem einiges in mein Kurzzeitgedächtnis pressen. Da kam es mir fast gelegen, dass sich Jan das ganze Wochenende geschäftlich irgendwo bei Hamburg rumtrieb. Er hatte sich vorhin kurz gemeldet, musste dann aber schnell zu einem Termin mit seiner Kollegin. Dieser Fernanda. Ob ich eifersüchtig war? Ein wenig vielleicht. Aber nur aus dem Grund, weil sie momentan mehr Zeit mit Jan verbringen durfte als ich. Und das war schlicht und einfach unfair.
Aber egal. Es gab jetzt Wichtigeres, zum Beispiel die Corioliskraft und die Passatwinde.
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