»Hast du gerade den Bauch eingezogen?« Schon ziemlich lustig. Immerhin waren wir jetzt schon eine Weile zusammen, ganze zwei Jahre, und ich kannte jeden Zentimeter seines Körpers in- und auswendig.
»Nein, nein«, winkte er verlegen ab. Er drehte sich zu mir um, umarmte mich lachend und küsste mich innig. Und wie er küssen konnte! Darin war er unschlagbar.
Ich liebte ihn so sehr.
»Sag mal, hast du eigentlich das Geschenk für Mum besorgen können?«, fragte er, nachdem er die Lippen von meinen gelöst hatte.
»Dass du in so einem Moment an deine Mutter denkst …«, gab ich zurück und zog einen beleidigten Schmollmund.
»Ist mir nur gerade so eingefallen. Hast du?«
»Ja, einen Krimi und ein Pflänzchen. Ich packe zu Hause noch alles schön ein und bringe es dann mit.«
»Abendessen gibt’s morgen um 18 Uhr. Okay? Soll ich dich abholen?«
»Nein, schon okay. Du musst doch wahrscheinlich eh länger arbeiten. Ich komme einfach mit dem Bus.«
»Okay«, flüsterte er und küsste mich noch mal keusch, fast schon schüchtern, auf die Lippen. »Und jetzt lass uns essen!«
Das wurde aber auch Zeit. Ich hatte einen Mordshunger.
Misstrauen
Natürlich hatte ich die Nacht bei Jan verbracht. Wir waren immerhin schon über zwei Jahre zusammen und er hatte ein geräumiges, eigenes Zimmer mit einem breiten, gemütlichen Bett. Auch seine Familie hatte sich mittlerweile an meine Anwesenheit gewöhnt. Es war also nicht ungewöhnlich, dass ich hier blieb. Ich war immer herzlich willkommen, pflegte Bianca, Jans Mama, stets zu sagen. Sie betrachteten mich alle als Teil der Familie.
Jan weckte mich, und noch bevor ich ihn sah, roch ich Duschgel und sein Aftershave.
»Nora, Süße, ich hau ab.« Ich öffnete müde die Lider und schaute mich verwirrt um. »Es ist sieben Uhr, du musst auch aufstehen. Ich habe Kaffee gekocht.«
Nun stellten sich so langsam meine Augen scharf und ich blickte in die leuchtend grün-braunen Augen meines Freundes. Ich streckte meine Arme nach ihm aus und zog ihn zu mir hinunter.
»Geh noch nicht!«, murmelte ich verschlafen. Jan streichelte mir über die Wange und lächelte mich an.
»Ich muss leider. Am Wochenende schlafen wir gemeinsam aus, okay?« Dann zwinkerte er mir anzüglich zu. »Heute Abend 18 Uhr, ja?«
»Klar«, gähnte ich und streckte mich genüsslich dabei.
Einen Augenblick später stand ich schließlich auf und trottete ins Bad. Dann hörte ich die Wohnungstür ins Schloss fallen. Ich bemühte mich, leise zu sein. Bianca schlief garantiert noch. An ihrem Geburtstag hatte sie sich freigenommen und würde wohl später den Rest des Tages damit verbringen, das Abendessen vorzubereiten. Ich grinste. Bianca war klasse. Ich mochte sie sehr. Überhaupt liebte ich Jans komplette Familie.
Um niemanden im Haus zu wecken, wusch ich mich schnell und leise, putzte mir die Zähne und zog mich an. Da ich öfter bei Jan übernachtete, hatte ich mittlerweile zwei Schubladen in seinem Kleiderschrank, die ich mit Kleidung und Kosmetikartikeln gefüllt hatte. Fast schon so wie bei einem Ehepaar. Dieser Gedanke ließ mein Lächeln noch breiter werden. Ich liebte diesen Kerl einfach. Ich konnte mein Glück meistens nicht fassen. Vielleicht auch, weil ich lange auf dieses Glück hatte warten müssen.
Der Schultag war langweilig wie eh und je. Und ich machte die Ankündigung von gestern tatsächlich wahr. Ich schwänzte zum ersten Mal. Zwar nur die letzten beiden Stunden Sport, aber trotzdem war es das Aufregendste des ganzen Tages. Ich kam mir vor wie ein Verbrecher. Auf meinem Weg nach Hause, zu illegal früher Stunde, war ich total hibbelig und mit Adrenalin vollgepumpt. Jan würde mich garantiert auslachen, wenn ich ihm das erzählte. Er hatte ab der 9. Klasse immer mal wieder blaugemacht und heimlich hinter dem Schulgebäude geraucht, wie er mir einmal vor kurzer Zeit stolz berichtet hatte. Böser Bube.
Ich schloss die Tür zu meiner kleinen Einzimmerwohnung auf und warf meine Tasche, ohne sie weiter zu beachten, in die Ecke. Hier sah es ziemlich wüst aus. Ich schaute auf die Uhr und stellte fest, dass ich bis zum gemeinsamen Abendessen bei Bianca noch ganze fünf Stunden Zeit hatte.
Zwar kam Torsten, mein Sozialarbeiter, nie unangemeldet vorbei und in den letzten Monaten eh nur noch sporadisch, aber ich musste mein Glück nicht unnötig herausfordern.
Ich krempelte die Ärmel hoch und begann, Kleider vom Boden aufzusammeln. Ich warf alles in die Waschmaschine im Badezimmer und spülte danach das dreckige Geschirr. Ich trocknete die Teller, Tassen und zwei Töpfe ab und räumte alles in den dafür vorgesehenen Schrank. Um das Ganze noch perfekt zu machen, schnappte ich mir den Staubsauger und saugte meine übersichtlichen 35 Quadratmeter sorgfältig durch.
So. Fertig.
Jetzt konnte ich mich um mich kümmern. Ich sprang unter die Dusche und gönnte mir eine duftende Haarkur, da ich heute hübsch aussehen wollte. Meine braunen, kinnlangen Haare sollten glänzen. Während die Kur auf meinem Kopf einwirkte, rasierte ich meine Beine und in weiser Voraussicht auch noch gleich den Rest meines Körpers. Vielleicht würde ich auch heute die Nacht wieder mit Jan verbringen. Frisch geduscht cremte ich mich mit einer blumigen Lotion ein und legte etwas Wimperntusche auf. Einige weitere Minuten später stand ich mit Jeans und einer Bluse bekleidet vor dem Spiegel. Fertig. Ich gefiel mir. Ich sah zwar ziemlich brav aus, aber das war ja auf dem Geburtstag der zukünftigen Schwiegermutter auch nicht verkehrt. Als sich das Wort Schwiegermutter in meinem Kopf formte, musste ich schon wieder grinsen. Es war einfach immer noch ein berauschend schönes Gefühl für mich. Dazuzugehören. Ich hatte ja nie eine eigene Familie gehabt.
Ich nahm das Buch, das ich für Bianca gekauft hatte, zur Hand. Einen Thriller vom dänischen Schriftsteller Jussi Adler-Olsen, dessen Bücher schon lange zu meinen liebsten gehörten. Ich verpackte es in hellblaues Geschenkpapier, auf dem viele bunte Geburtstagstorten abgebildet waren. Zwar etwas kindisch, aber den Kontrast zum blutrünstigen Thriller darin fand ich lustig. Dann schnappte ich mir noch die Orchidee, die ich zusätzlich besorgt hatte, und machte mich auf den Weg zu Biancas Geburtstagsfeier.
Knapp 25 Minuten später klingelte ich an der Eingangstür, die prompt von einem aufgeregten Sebastian geöffnet wurde. Sofort riss er mich in seine Arme.
»Nora, ey, wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen!«
»Höchstens zwei Wochen«, gab ich etwas verlegen zurück.
»Viel zu lange, sag ich doch!« Ich liebte Sebastian. Er war Jans Bruder und mein bester Freund. Und irgendwie vielleicht sogar so etwas wie mein Bruder. Bruder im Herzen oder so. Und er mochte mich mindestens so sehr wie ich ihn. Er vertraute mir, und wenn es ihm schlecht ging, meldete er sich immer zuerst bei mir.
So war ich auch die Erste, der er beichtete, homosexuell zu sein. Er hatte wirklich mit sich gerungen und schreckliche Angst vor meiner Reaktion gehabt. Das hatte mich schon fast wütend gemacht. Als hätte ich ihm jemals nicht beigestanden. Mit mir an seiner Seite hatte er es dann auch Jan erzählt. Dieser war anfangs etwas überrascht, hatte den sichtlich eingeschüchterten Sebastian dann aber aufmunternd in die Arme genommen. Nichts würde seine Meinung über ihn ändern, hatte er ihm zugesichert. Obwohl Sebastian mit unserer Reaktion zufrieden sein konnte, hatte er sich bis heute noch nicht überwinden können, sich vor seiner Mutter zu outen. Ich war mir sicher, dass Bianca es gut aufnehmen würde, und wahrscheinlich ahnte sie es sowieso schon. Eine Mutter hatte da doch so etwas wie einen sechsten Sinn. Aber vielleicht brauchte er auch einfach nur noch ein wenig mehr Zeit. Es war ja seine Sache.
Sebastian grinste wie ein Honigkuchenpferd, nahm mich an der Hand und zog mich ins Wohnzimmer hinein.
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