Ich ging zurück zu Sebastian und griff nach meiner Tasche.
»Ich sollte so langsam heimgehen. Morgen wird‘s ernst.«
»Willst du nicht noch kurz warten? Jan kommt doch gleich aus der Dusche.«
»Wer weiß, wie lange das noch dauert, und ich muss heute echt früh ins Bett.«
»Okay ...« Sebastian schaute mich besorgt an und glaubte mir meine Ausrede natürlich nicht. Das war jetzt aber auch egal.
»Drück mir morgen die Daumen, ja?«
»Mach ich, ist doch klar.«
Sebastian umarmte mich und streichelte mir beruhigend über den Rücken.
»Alles wird gut. Wart‘s nur ab.«
Ich nickte, wenn auch wenig überzeugt, und öffnete die Tür. Ich erstarrte sofort.
Beinahe wäre ich in jemanden reingerannt.
Ich trat einen Schritt zurück, um die Person zu betrachten, die direkt vor der Tür stand und sich anscheinend genauso erschrocken hatte wie ich. Denn ihre Hand lag dort, wo man ein heftig schlagendes Herz vermuten würde, und ihr gehetzter Blick sprach Bände.
»Huch«, kam es von mir und ich musterte die Gestalt etwas genauer.
Das war Fernanda.
Mit 150-prozentiger Sicherheit.
»Nora?«, fragte jemand hinter mir und plötzlich standen nicht nur Sebastian und ich dieser Frau gegenüber. Auch Jan, der zu allem Übel nur eine Jogginghose trug und somit oberkörperfrei war, leistete uns Gesellschaft. Seine feuchten Haare komplettierten dieses Bild und machten es perfekt. Na toll! So sollte sie ihn definitiv nie sehen. Dieser Anblick war für mich reserviert!
Jan schien etwas peinlich berührt zu sein und verschränkte die Arme vor der Brust, um wenigstens ein bisschen seine Blöße zu bedecken.
Zu spät, mein Lieber.
Der leichte Rotschimmer auf Fernandas Wangen war kaum zu übersehen. Und es machte sie leider noch hübscher. Wo war ich hier eigentlich gelandet? Ich kam mir sowas von fehl am Platze vor.
»Fernanda, was treibst du denn hier?« Jan brach als Erster das Schweigen. Sebastian griff in dem Moment nach meiner Hand. Keine Ahnung, warum. Es war eine Angewohnheit von ihm. Immer, wenn etwas drohte, ihm oder mir über den Kopf zu wachsen, hielt er meine Hand. Im Augenblick war ich ihm sehr dankbar dafür. Ahnte er etwas?
»Ich war ... ähm« Sie warf ihr langes Haar nach hinten und versuchte wohl, sich zu sammeln. »Ich wollte dir nur die Papiere und Verträge für den Termin vorbeibringen. Damit du dich vorbereiten kannst.«
»Dafür wäre doch morgen noch Zeit gewesen«, gab Jan zurück und griff nach dem Ordner.
»Ich geh dann mal«, sagte ich daraufhin leise und löste mich von Sebastian. Meine Anwesenheit war hier ja nicht länger gefragt oder erwünscht.
»Nora, warte, ich ...« Jan versuchte, nach meiner Hand zu greifen, aber ich entzog sie ihm. Ich war nicht in der Stimmung.
»Ach, du bist Nora«, wandte nun Fernanda das Wort an mich. »Schön, dass ich dich auch mal kennenlerne. Ich habe schon viel von dir gehört.« Sie reichte mir ihre manikürte Hand und ich ergriff sie zögerlich. Mehr aus Reflex. Sollte ich etwas sagen?
»Ähm, ja.« Mann, war ich heute wieder schlagfertig! Fernanda lächelte und zeigte dabei eine Reihe weißer, perfekter Zähne. Am liebsten hätte ich mit den Augen gerollt. Das wäre aber wohl nicht angebracht gewesen. Also drehte ich mich um und umarmte Sebastian schnell zum Abschied. Seine Augen musterten mich besorgt. Ich mied seinen Blick. Jan bekam einen eiligen Kuss. Dann nahm ich meine Beine in die Hand und sprintete los. Ich musste einfach rennen. Wollte weg, so schnell es ging. Weg von der ganzen verzwickten Situation, von ihm, von ihr. Ich konnte mir nicht mal erklären, warum oder woher dieser plötzliche Drang kam. Es war wie eine Art Fluchtreflex. Ich war so überfordert, dass ich nicht wusste, wie ich sonst damit umgehen sollte. Also rannte ich, bis ich zu Hause war.
Vor meiner Haustür angekommen, schnappte ich hektisch nach Luft und mein Kreislauf war kurz davor, den Geist aufzugeben. Meine Lunge brannte, die Kehle war ausgedörrt und meine Augen tränten.
»So hat es bei seinem Vater auch angefangen.« Biancas Worte kamen mir wieder in den Sinn. Ich schüttelte wie wild mit dem Kopf, um diese deprimierenden Gedanken zu verscheuchen. Aber es war wie mit einem unangenehmen Ohrwurm. Ich konnte diese schrecklichen Worte einfach nicht aus meinem Hirn verbannen.
Nein. Nein, Jan war nicht so!
Nein!
Und trotzdem konnte ich dieses komische Gefühl in mir nicht ausblenden.
Ein Gefühl des Verlustes. Angst, Eifersucht, Übelkeit, Traurigkeit, Wut. All das und noch viel mehr.
»Was, in Gottes Namen, war das eben?«
Bemühungen
Ich hatte es geschafft.
Es war tatsächlich vorbei.
Ich hatte alle Abiturprüfungen hinter mich gebracht und war gar nicht mal so unzufrieden. In Biologie konnte ich zwar zwei Fragen mehr schlecht als recht beantworten, aber was soll‘s? Es war vorbei!
Ich sprang beflügelt die Stufen des Schulgebäudes hinunter und hielt, unten angekommen, für ein paar Sekunden mein Gesicht Richtung Sonne und atmete durch. Ich war die letzten Tage und Wochen so dermaßen angespannt gewesen. Nicht nur körperlich. Ab jetzt sollte alles besser werden.
Und wie konnte ich am besten entspannen?
Ich lief los. Die Bibliothek war mein Ziel.
Ich war monatelang gezwungen gewesen, auf gute Romane zu verzichten. Die einzigen Bücher, die ich zur Hand genommen hatte, waren Schulbücher oder Fachliteratur gewesen. Selbst nach dem Lernen traute ich mich nicht, zu einer schönen Liebesgeschichte oder einem Thriller zu greifen, da ich sofort ein schlechtes Gewissen bekam. Wenn ich Zeit hatte, den neuesten Bestseller von Ken Follett zu lesen, konnte ich mir auch noch mal den Aufbau des Auges anschauen und einprägen. Aber nun war diese Zeit ja endlich vorbei.
Ich war literaturausgehungert!
Ich liebte die Bücherei und ich liebte es zu lesen. Schon lange war es mein liebstes Hobby. Als Kind entwickelte ich diese Leidenschaft zu Büchern eher unfreiwillig. Es war schlichtweg ein Ersatz. Ich hatte kein Geld für Vereine oder für ein Musikinstrument gehabt. Ein Deutschlehrer hatte meine Liebe zu Büchern entdeckt und wollte mich unbedingt fördern. Also schenkte er mir einen Bibliotheksausweis. »Das günstigste Hobby, das es gibt«, meinte er. »Und gleichzeitig auch das schönste.«
Seitdem war ich süchtig nach Büchern. Denn dieser Lehrer hatte Recht behalten. Selbst ein armes Waisenkind, wie ich es war, konnte sich Bücher ausleihen. Und die Bücher bescherten mir nicht nur wunderbare Stunden in fernen Welten und Zeiten, sie ermöglichten mir, aus meinem Alltag zu entfliehen. In den Geschichten fand ich Freunde, wenn auch keine realen. Das größte Glück war allerdings, dass ich hier in dieser Bücherei Jan kennengelernt hatte.
Meinen Jan.
Uns verband sofort etwas. Es war von der ersten Sekunde an besonders mit ihm gewesen. Wir lasen die gleichen Bücher, wir unterhielten uns über unsere Lieblingsschriftsteller und wir trafen uns hier regelmäßig. Zuerst waren es Zufälle. Dann häuften sich diese und wirkten irgendwann alles andere als zufällig, bis mir Jan schließlich gestand, dass er absichtlich zur gleichen Zeit wie ich hier war und auf mich wartete. Daraufhin lud er mich auf einen Kaffee ein und ich gab ihm meine Telefonnummer. Eins kam zum anderen und seitdem waren nun mehr als zwei Jahre vergangen.
Die glücklichsten Jahre meines Lebens.
Wenn ich so zurückdachte, wurde mir eines noch stärker bewusst: Ich durfte das mit Jan nicht ignorieren und aussitzen. Wir beide gehörten zusammen. Das war eine Tatsache. Diese Distanz, die ich zwischen uns spürte, durfte nicht noch mehr Besitz von uns ergreifen. Ich musste alles daran setzen, ihn zu unterstützen und ihm zu zeigen, wie sehr ich ihn liebte und vertraute. Das war meine Aufgabe als seine Freundin.
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