»Und wieso haben sie einen Hubschrauber geschickt?«
»Ich denke, dass sie mich entführen wollten. Und wenn das nicht gelingen sollte, mich umzubringen.«
»Wie geht es dem Präsidenten?«, erkundigte sich Selena. Sie trug eine hellblaue Seidenbluse, die zur Farbe ihrer Augen passte.
»Er lebt, wird aber für eine Weile außer Gefecht sein. Vizepräsident Edmonds hat die Geschäfte übernommen. Er wird aber noch nicht vereidigt, es sei denn, Rice stirbt oder wird sein Amt nicht mehr aufnehmen können.«
»Das könnte zu einem Problem werden«, sagte Nick. »Edmonds mag uns nicht besonders.«
»Ich mag ihn auch nicht, aber damit müssen wir klarkommen. Edmonds hält uns für eine Bande durchgeknallter Spinner. Solange er auf dem großen Stuhl sitzt, werden wir aus dem Weißen Haus keine Unterstützung erhalten.«
»Werden wir versuchen, herauszufinden, wer hinter Rice her war?«, fragte Selena.
»Das tun derzeit schon einige. Fürs Erste sollen die sich damit beschäftigen. Ich mache mir im Moment mehr Sorgen darüber, wieso sie hinter mir her waren. Wieso ich? Wer immer dahintersteckt, kannte meine private Nummer und wusste, dass ich Rices Ruf folgen würde. Es gibt nicht viele Menschen, die diese Nummer kennen – und die ich im Übrigen ändern werde.«
Ronnie rieb sich mit einem Knöchel über die Nase. »Da spielt jemand mit harten Bandagen.«
»Sie müssen gut finanziert und organisiert sein«, überlegte Nick. Noch einmal deutete er aus dem Fenster und auf das Wrack. »Das ist ein ziemlich teurer Haufen Schrott da draußen.«
Elizabeth legte ihren Stift beiseite. »Das bringt uns nicht wesentlich weiter.«
Nick zog an seinem Ohr. »Wie viele Leute wissen, wie man Sie erreichen kann?«
»Der Vorsitzende der Joint Chiefs of Staff. Hood. Der Präsident. Der Leiter der National Intelligence. Der Chef der NSA.«
»Und nicht zu vergessen die Russen«, sagte Nick. »Vysotsky kennt Ihre Nummer ebenfalls.«
»Er ist dafür zu geschickt«, widersprach Harker. »Das ist nicht sein Stil.«
»Was ist mit Edmonds?«, fragte Selena.
Harker warf ihr einen verstörten Blick zu. »Das ist ein böser Gedanke, Selena. Er mag mich nicht, und er wäre sicher froh, mich los zu sein, aber ich glaube nicht, dass er mir nach dem Leben trachtet.«
»Irgendjemand tut es aber.«
»Nun«, antwortete Elizabeth. »Wenn es ihnen so wichtig ist, werden sie es sicher wieder versuchen.«
»Was also tun wir als Nächstes?«, fragte Nick.
»Ich werde versuchen, den Hubschrauber zurückzuverfolgen«, sagte Stephanie. »Vielleicht gelingt es uns, herauszufinden, wem er gehörte und woher er kam.« Sie spielte an den goldenen Armbändern um ihr Handgelenk herum. Das tat sie immer, wenn sie angespannt war.
Elizabeth blickte in die Runde. »Jeder von uns könnte eine Zielscheibe sein. Ich will Sie nicht einsperren, aber Sie sollten vorsichtig sein.«
»Das kennen wir ja schon«, antwortete Ronnie.
Die Küche in Nicks Appartement in Washington war ein gemütlicher Raum, groß genug für einen Tisch und vier Stühle. Ein breiter Tresen trennte sie von dem Wohnbereich ab, der gleichzeitig als Bar fungierte. Der Druck eines Paul Klees hing über der modernen dänischen Couch im Wohnzimmer. Nick mochte den klaren, schnörkellosen Look europäischer Möbel mindestens genauso sehr, wie er Paul Klees Bilder liebte. Ein echter Klee hing in seinem Schlafzimmer, ein Geschenk von Selena. Sie saß am Tisch, blätterte in einem Magazin und summte vor sich hin. Nick stand am Herd und kochte ihnen etwas zu essen.
Er sah zu ihr hinüber und musste an die Akte in der obersten Schublade seiner Kommode denken, jene Akte, die Adam ihm gegeben hatte. Er hatte beschlossen, dass es an der Zeit war, sie ihr zu zeigen.
Nick kannte Adam nur als körperlose, elektronisch verzerrte Stimme hinter der Trennwand auf dem Rücksitz des gepanzerten Cadillacs. Er hatte ihn nie wirklich zu Gesicht bekommen, wusste nicht einmal, ob Adam ein Mann oder eine Frau war.
Hin und wieder, wenn Nick aus seinem Haus kam, wartete Adams schwarzer Cadillac am Straßenrand auf ihn. Dann stieg er in den Wagen und sie fuhren damit eine Weile herum, während Adam über unangenehme Dinge sprach, von denen er glaubte, dass sie Nick interessieren würden, oder über unangenehme Menschen, die Dinge planten, die einen Krieg auslösen könnten. Das Problem dabei war, dass er stets recht behielt. Nick betrachtete ihn mittlerweile als eine Art persönlichen Boten der Götter der Spionage.
Erst vor einer Woche hatte Adam ihm eine geheime CIA-Akte aus den Tagen des Kalten Krieges übergeben, als Aufnahmen und Berichte noch auf Papier festgehalten und in verschlossenen Schränken anstatt Computern aufbewahrt wurden. Er hatte Nick wissen lassen, dass es seine Beziehung zu Selena beeinflussen könnte. Und nachdem er sie gelesen hatte, wünschte er, er hätte die verdammte Akte nie zu Gesicht bekommen. Er wusste nicht, wann der geeignete Zeitpunkt gekommen sein würde, ihr davon zu erzählen. Der Inhalt würde sie beunruhigen und unglücklich machen. Es ging um die Morde an Selenas Familie, als sie zehn Jahre alt gewesen war. Der Wagen ihrer Eltern war in der Nähe des Big Sur von einer Klippe gestürzt.
Ein Unfall, wie die Polizei damals feststellte. Nur, dass es kein Unfall gewesen war. Die Akte enthüllte, dass ihre Eltern vielmehr vom KGB umgebracht worden waren. Und was noch schlimmer war – sie bewies, dass Selenas Vater ein Spion gewesen war. Ein Verräter. Wie sollte er ihr das erklären?
Nick rührte das Gemüse und das Fleisch um, die auf dem Herd köchelten, und gab etwas Cayenne-Pfeffer und Salz hinzu.
»Bist du hungrig?«, fragte er.
Selena lächelte. »Und wie. Was immer du da kochst, es riecht wundervoll.«
»Ich rühre nur was zusammen. Nichts Großartiges.«
Nick schöpfte die Mahlzeit aus der Pfanne und gab sie in eine Schüssel. Die dampfende Schüssel trug er zum Tisch, gab etwas auf Selenas und seinen eigenen Teller und setzte sich. Sie begannen zu essen.
»Eine Menge Leute beten für Rice«, sagte Selena.
»Er ist zäh. Er wird es schaffen.«
»Was glaubst du, wer war hinter Elizabeth her?« Selena nahm einen Schluck von ihrem Weißwein, dann stellte sie das Glas wieder auf dem Tisch ab.
»Keine Ahnung.«
Nick schob sein Essen auf dem Teller herum.
»Dich bedrückt etwas, oder?«
Nach zwei Jahren, die sie nun zusammen waren, war Selena ziemlich gut darin, ihn zu durchschauen.
Sag es ihr, ermunterte ihn irgendwo in seinem Kopf eine leise Stimme. Er war den mentalen Drahtseilakt leid. Sie würde es verkraften, oder auch nicht. Aber es war an der Zeit, die Sache aus der Welt zu schaffen.
»Als ich das letzte Mal Adam traf, gab er mir etwas.«
Selena wusste von Adam, so wie jeder andere bei PROJECT. Sie wartete.
»Eine Akte«, fuhr er fort.
»Eine Akte? Was für eine Akte?«
»Eine Geheimakte aus Langley. Aus den Achtzigern. Adam sagte, es wäre die einzige Kopie.«
»Worum geht es?«
Nick seufzte. »Um deinen Vater.«
»Adam hat dir eine Akte über meinen Vater gegeben? Wann hattest du denn vor, mir davon zu erzählen?«
»Das tue ich doch gerade.«
»Wieso sollte er so etwas tun? Sie dir geben, meine ich.«
»Ich schätze, er wollte, dass ich erfahre, was darin steht.«
Sie legte ihre Gabel ab. »Wo ist sie?«
»Nebenan.«
»Dann solltest du sie mir vielleicht besser zeigen.«
Nick seufzte erneut. Er stand auf, lief ins Schlafzimmer und holte die Akte aus der Schublade. Dann legte er sie vor ihr auf den Tisch und lief zur Hausbar. Wenn sie den Inhalt erst gelesen hatte, würde er etwas Stärkeres als Wein brauchen. Nick goss sich einen Irish Whiskey ein, kehrte zum Esstisch zurück und setzte sich. Dann schob er seinen Teller von sich. Ihm war der Appetit vergangen.
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