Die Aufgabe der Vernunft ist es also, zu ermitteln, ob eine bestimmte Überzeugung wahr oder falsch ist und welche Art von Gewissheit ihr zugestanden werden kann. Wie genau macht sie das? Hume charakterisiert die Vernunft zum einen als die Ursache der Wahrheit,28 zum anderen als eine Teilmenge der Prinzipien der Einbildungskraft. Zur Vernunft zählen nach Hume diejenigen Prinzipien der Einbildungskraft, die dauerhaft ( permanent ), unwiderstehlich ( irresistable ) und allgemein ( universal ) sind. Dazu gehört beispielsweise der Schluss von einer Ursache auf ihre Wirkung, auf den später noch einzugehen sein wird. Stellt man eine vernünftige Gedankenkette einer unvernünftigen direkt gegenüber, so wird sich die vernünftige natürlicherweise durchsetzen und die weniger vernünftige aus dem Denken verdrängen. (Vgl. T 1.4.4.1; SBN 225.)
Nimmt man all diese Beschreibungen der Vernunft zusammen, so stellt sich Hume die Funktion der Vernunft offenbar so vor: »Vernunft« ist ein allgemeiner Begriff, unter dem wir die besonders zuverlässigen und intersubjektiv einheitlich funktionierenden Prinzipien des Denkens zusammenfassen. Diese erzeugen wahre Urteile, die uns wiederum als Maßstab für Urteile dienen können, die anderen Quellen entstammen. Wenn wir mit einer Aussage konfrontiert werden, deren [36]Wahrheitsgehalt fraglich ist, beurteilen wir sie durch den Vergleich mit denjenigen Urteilen, zu denen uns der (ungestörte) Gebrauch der Vernunft führt. Stimmt sie mit diesen Urteilen überein, halten wir sie für wahr, tut sie es nicht, halten wir sie für falsch.
Doch wie äußert sich dieses Fürwahrhalten? Nach Hume liegt der Unterschied zwischen einer rein fiktiven oder für falsch gehaltenen Vorstellung und einer für wahr gehaltenen Überzeugung in der Art und Weise, wie die fragliche Vorstellung perzipiert wird. Die Überzeugung, dass Hume ein Philosoph war, unterscheidet sich von der Vorstellung, dass er ein Außerirdischer war, nicht nur ihrem Inhalt nach, sondern auch hinsichtlich der Lebhaftigkeit, mit der sie perzipiert wird. Eine für wahr gehaltene Vorstellung wird nach Hume als lebhafter erfahren, weil sie von einem besonderen Gefühl begleitet wird. Hume nennt dieses Gefühl Glaube ( belief ).29
Die konkrete Arbeitsweise der Vernunft lässt sich damit in etwa so veranschaulichen: Wenn ich behaupte, dass Silvester im nächsten Jahr auf einen Montag fallen wird, dann können Sie diese Behauptung beurteilen, indem Sie den fraglichen Wochentag selbst errechnen und meine Behauptung mit dem Ergebnis Ihrer Berechnungen vergleichen. Wenn Ihr Ergebnis von meiner Behauptung abweicht, so werden Sie Ihr durch vernünftige Überlegungen gewonnenes Urteil nach Hume lebhafter perzipieren, sodass es die Vorstellung des von mir genannten Wochentages aus Ihrem Denken verdrängt.
Doch was ist, wenn Sie sich verrechnen, weil Ihr Denken von weniger zuverlässigen Prinzipien der Einbildungskraft gestört wird? Einen Irrtum kann in der Praxis niemand vollkommen ausschließen. Die Erfahrung lehrt uns schließlich, dass Menschen sich zuweilen in ihrem Urteil irren. Die empirischen Ergebnisse menschlicher Überlegungen sind daher streng genommen immer nur mit einer gewissen [37]Wahrscheinlichkeit korrekt, nie jedoch über jeden Zweifel erhaben. (Vgl. T 1.4.1.1–12; SBN 180–187.)
Diese Feststellung kann zu der Ansicht verleiten, dass in der Praxis letztlich nichts gewiss und alles anzweifelbar ist. In diesem Fall hätte uns Humes Ansatz in einen unauflöslichen Skeptizismus geführt. Doch ist es wirklich vernünftig, an allem zu zweifeln?
Ein entscheidendes Kriterium für die Vernünftigkeit eines Gedankengangs ist nach Hume, dass er sich bei der direkten Gegenüberstellung mit anderen, weniger vernünftigen Gedankengängen durchsetzen wird, da seine Ergebnisse mit größerer Lebhaftigkeit perzipiert werden. Besteht der allumfassende Zweifel diesen empirischen Test? Wohl kaum. In der Theorie kann ein radikaler Skeptiker zwar behaupten, dass es keine Gewissheit gibt. Es wird ihm jedoch nicht gelingen, wirklich daran zu glauben und sein Verhalten in der alltäglichen Praxis konsequent an dieser Erkenntnis auszurichten. (Vgl. EHU 12.17–23; SBN 155–160.) Die Prinzipien unserer Natur erlauben es uns nicht, an allem und jedem zu zweifeln und uns stets eines Urteils zu enthalten. Selbst ein Skeptiker kann nicht verhindern, dass einige seiner Vorstellungen vom Gefühl des Glaubens begleitet werden und andere nicht. Der radikale Skeptizismus gehört also nicht zu den dauerhaften, unwiderstehlichen und allgemeinen Prinzipien des Denkens und damit nicht zu den Prinzipien der Vernunft.
In seiner gemäßigten Form lässt sich der Skeptizismus jedoch durchaus konsequent verfolgen und erweist sich zudem als äußerst nützlich.30 Er macht uns die prinzipielle Fehleranfälligkeit menschlicher Überlegungen bewusst, lehrt uns Bescheidenheit und bringt gewissenhafte Philosophen dazu, ihre Überlegungen sorgfältig zu überprüfen und gegenüber der konstruktiven Kritik ihrer Fachkollegen aufgeschlossen zu sein.
[38]Die Pointe dieses Ansatzes ist, dass es nach Hume keinen objektivistisch begründbaren Maßstab für Wahrheit gibt. Andererseits ist Wahrheit für Hume jedoch auch nicht in dem Sinne subjektiv, dass das Wahre und das subjektiv Fürwahrgehaltene nicht unterscheidbar wären. Wenn Sie sich im oben genannten Beispiel tatsächlich verrechnet haben und andere kompetente Urteilende Sie auf Ihren Fehler aufmerksam machen, werden Sie ihn einsehen und Ihre Überzeugungen ändern. Den Maßstab für Ihre Überzeugungen liefern dann jedoch nicht objektiv erkennbare Gegebenheiten der Außenwelt, sondern die vernunftgeleiteten und daher auch für Sie selbst nachvollziehbaren Überzeugungen anderer Menschen. Humes Wahrheitsverständnis lässt sich daher am treffendsten als intersubjektivistisch bezeichnen.
Dieser Punkt ist von großer Bedeutung. Die Vernunft kann nach Hume nichts anderes tun als Vorstellungen hervorzubringen und miteinander zu vergleichen. Wenn Hume ihr die Aufgabe zuweist, Überzeugungen mit »realen« Vorstellungsbeziehungen und »realen« Tatsachen zu vergleichen, kann er damit also nur wiederum Perzeptionen meinen – nicht die realen Dinge der Außenwelt. Denn erstens haben wir zu diesen keinen von unseren Perzeptionen unabhängigen erkenntnistheoretischen Zugang und zweitens kann eine Perzeption naturgemäß nur mit etwas übereinstimmen, das ebenfalls eine Perzeption ist.
Damit will Hume jedoch nicht sagen, dass es die Außenwelt gar nicht gibt. Seine Feststellung, dass es für uns streng genommen nur Perzeptionen gibt, ist nicht ontologisch, sondern epistemologisch zu verstehen. Eine Außenwelt mag durchaus existieren, aber wir können nichts über sie wissen. Als systematisches Wahrheitskriterium ist die Berufung auf ontologisch objektive Tatsachen daher denkbar ungeeignet.31
Ist es nach Hume denn dann überhaupt vernünftig, von der [39]Existenz einer Außenwelt auszugehen? Interessanterweise ist es das. Hume gibt zwar zu bedenken, dass wir die Existenz einer Außenwelt weder durch bloßes Nachdenken demonstrieren noch durch Erfahrung beweisen können. (Vgl. T 1.2.6.7 f.; SBN 67 f.) Er weist aber gleichzeitig darauf hin, dass es uns in der Praxis vollkommen unmöglich ist, an ihr zu zweifeln. (Vgl. T 1.4.2.1; SBN 187.) Die Überzeugung, dass die Außenwelt existiert, beruht offenbar auf einem dauerhaften, unwiderstehlichen und allgemeinen Prinzip des Denkens. Genau das sind nach Hume jedoch die Kriterien, die ein Prinzip der Einbildungskraft erfüllen muss, um zu den Prinzipien der Vernunft gerechnet zu werden. Es ist also vernünftig, an die Existenz der Außenwelt zu glauben. Und da Hume die Vernunft als die Ursache der Wahrheit betrachtet, ist die Aussage, dass die Außenwelt existiert, ein wahrer Satz.
Hume zufolge gibt es also (einige wenige) Überzeugungen, von deren Wahrheit wir zu Recht ausgehen, ohne sie intuitiv erkennen, demonstrieren oder durch einen Beweis im Sinne Humes belegen zu können. In der Sekundärliteratur hat sich für diese Phänomene seit Norman Kemp Smith der Begriff der natürlichen Glaubensinhalte ( natural beliefs ) durchgesetzt. (Vgl. Kemp Smith 1941/2005) Gibt es für Hume also doch angeborene Vorstellungen? Nein. Erzeugt werden die »natural beliefs« wie alle Tatsachen betreffenden Überzeugungen erst durch Erfahrung. Als angeboren betrachtet Hume lediglich unsere Unfähigkeit, Überzeugungen dieser Art nach ihrer Entstehung konsequent in Zweifel zu ziehen.
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