[31]Die Vernunft und ihre Grenzen
Ein wiederkehrendes Thema in Humes Philosophie ist die Frage nach der Art des Zusammenspiels zwischen Vernunft und Gefühl. Hume versucht zu zeigen, dass viele Prozesse, die wir traditionell auf das Wirken der Vernunft zurückführen, erst durch die Mitwirkung oder sogar unter Leitung des Gefühls zustande kommen. Sein schwacher Vernunftbegriff hat Hume vonseiten seiner Kritiker seit jeher den Ruf eines Skeptikers eingebracht. Diese Einschätzung entspricht durchaus seinem Selbstbild. Wer Hume allerdings auf diesen Aspekt seiner Philosophie reduziert, wie dies bei vielen Interpreten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein üblich war, tut ihm Unrecht. Die Vernunft ist für ihn zwar tatsächlich die »Sklavin der Affekte« ( slave of the passions ; vgl. T 2.3.3.4; SBN 415). Als Historiker wusste Hume jedoch nur zu gut, dass Sklaven in der antiken Gesellschaft durchaus wichtige Arbeiten zu verrichten hatten. Seine Sklaven-Metapher soll lediglich verdeutlichen, dass die zentralen Entscheidungen nicht von der Vernunft, sondern vom Gefühl getroffen werden.
Abgesehen davon betrachtet Hume die Vernunft durchaus als ein wichtiges und sowohl in der Philosophie als auch im Alltag hoch geschätztes Werkzeug. Die Vernunft arbeitet den Affekten zu, indem sie möglichst korrekte und vollständige Informationen über die Situation liefert, in der wir uns befinden. Diese Informationen rufen ihrerseits bestimmte Affekte hervor oder weisen ihnen die Richtung, zeigen also die Mittel zum Erreichen eines durch die Affekte vorgegebenen Zwecks auf. (Vgl. T 3.1.1.12; SBN 459.)
In erster Linie ist die Vernunft für Hume jedoch einfach das Vermögen, zwischen Wahrheit und Irrtum zu unterscheiden. Dies gelingt ihr, indem sie Urteile daraufhin überprüft, ob sie mit den realen Vorstellungsbeziehungen ( relations of ideas ) [32]bzw. den realen Tatsachen ( matters of fact ) übereinstimmen.25 Die Unterscheidung zwischen Vorstellungsbeziehungen und Tatsachen (vgl. EHU 4.1; SBN 25.) wird oft als »Humes Gabelung« ( Hume’s fork ) bezeichnet. Was ist mit diesen Ausdrücken gemeint?
Mit Vorstellungsbeziehungen haben wir es vorwiegend im Bereich der Mathematik zu tun. Eine Aussage drückt eine Vorstellungsbeziehung aus, wenn ihre Wahrheit oder Falschheit intuitiv oder demonstrativ erkannt werden kann. Die Aussage »1 = 1« kann intuitiv als wahr erkannt werden. Der Satz des Pythagoras ist zwar nicht intuitiv als wahr erkennbar, seine Wahrheit kann jedoch demonstriert werden, indem man eine lückenlose Kette von Beweisschritten bildet, die jeder für sich genommen intuitiv als wahr erkannt werden. Sätze, die Vorstellungsbeziehungen ausdrücken, liefern uns keine neuen Erkenntnisse über ihr Subjekt, sondern stellen lediglich eine erläuternde Analyse der verwendeten Begriffe dar. In der Philosophie werden solche Sätze daher als analytisch 26 bezeichnet. Die Wahrheit einer analytischen Aussage hängt nicht von der Erfahrung ab. Dass die Winkelsumme eines Dreiecks 180 Grad beträgt oder dass ein Junggeselle ein unverheirateter Mann ist, sind a priori wahre Aussagen, ganz unabhängig davon, ob Dreiecke oder Junggesellen tatsächlich existieren. Das Gegenteil dieser Aussagen lässt sich zwar in Worte fassen, kann jedoch nicht klar vorgestellt werden, da eine solche Vorstellung einen Widerspruch enthalten würde. Wer ernsthaft behauptet, die Vorstellung eines verheirateten Junggesellen bilden zu können, hat nicht verstanden, was ein Junggeselle ist.
Sobald wir behaupten, dass etwas existiert oder in der Welt der Fall ist, reden wir nach Hume jedoch nicht mehr über Vorstellungsbeziehungen, sondern über Tatsachen. Die Wahrheit einer Aussage, die eine Tatsache ausdrückt, kann nur durch Rückgriff auf die Erfahrung, also a posteriori überprüft werden. [33]Um zu entscheiden, ob ein Satz wie »Morgen wird es regnen« wahr ist, genügt es nicht, die Bedeutung der verwendeten Begriffe zu kennen. Die Vorstellung des morgigen Tages lässt sich ebenso widerspruchsfrei mit der Vorstellung von Regen wie ohne sie denken. Derartige Sätze werden daher auch als synthetisch bezeichnet, weil in ihnen zwei Vorstellungen miteinander verknüpft werden, die nicht notwendigerweise zusammengehören. Anders als im Fall von Vorstellungsbeziehungen ist das Gegenteil einer Tatsache stets vorstellbar und damit möglich. Eine Tatsache lässt sich daher niemals intuitiv oder durch Demonstration als wahr oder falsch erkennen. Ob es draußen gerade regnet oder nicht, kann nicht durch reines Nachdenken, sondern nur durch Nachschauen festgestellt werden.
Hume geht davon aus, dass alle Urteile entweder analytisch a priori oder synthetisch a posteriori sind. Ein synthetisches Urteil a priori im Sinne Kants27 hält Hume für unmöglich. Er kritisiert, dass einige seiner Zeitgenossen philosophische Fragen auch dann wie Fragen der Mathematik behandeln, wenn sie Tatsachen wie das Wesen der Moralität oder die Existenz Gottes betreffen. Diese Autoren reden in analytischen Sätzen über die Beziehung zwischen Begriffen, die keine Grundlage in der Erfahrung haben. Ihre so entwickelten Systeme mögen in sich konsistent sein, verhelfen uns aber zu keinerlei Erkenntnissen über uns selbst oder über die Welt. Wenn es um Tatsachenfragen geht, darf sich der Philosoph, so Hume, nicht an der Mathematik, sondern nur an der experimentellen Methode der Naturwissenschaften (im bereits erläuterten Sinne) orientieren.
Aus diesem Ansatz ergeben sich schwerwiegende Konsequenzen für die Grenzen sinnvollen Philosophierens: Wahre Wissenschaft ist nach Hume nur in zwei Bereichen möglich. Der erste ist der Bereich des logisch-mathematischen Denkens, in dem wir es mit rein analytischen Urteilen zu tun [34]haben. Der zweite ist der Bereich der Tatsachenwissenschaften, deren Grundlage allein die Erfahrung sein kann. Alle Fragen, die Tatsachen und Existenz betreffen, zu deren Beantwortung jedoch nicht auf Erfahrung zurückgegriffen werden kann, sind kein Gegenstand seriöser Wissenschaft. Wer sich dennoch mit ihnen beschäftigt und beispielsweise meint, als Philosoph Aussagen über das Wesen Gottes machen zu können, betreibt nutzlose, spekulative Metaphysik. Hume geht so weit, zu empfehlen, alle Bücher, die in dieser oder ähnlicher Weise die Grenzen des sinnvollen Denkens überschreiten, ins Feuer zu werfen. (Vgl. EHU 12.34; SBN 165.)
Die Unterscheidung zwischen Vorstellungsbeziehungen und Tatsachen ist insbesondere dort wichtig, wo es um die Frage nach der Gewissheit von Urteilen geht. Hume unterscheidet drei Arten einer solchen Gewissheit: Wissen ( knowledge ), Beweis ( proof ) und Wahrscheinlichkeit ( probability ). (Vgl. T 1.3.11.2; SBN 124.) Wirklich sicheres Wissen ist nur im Bereich von Vorstellungsbeziehungen möglich, da das Gegenteil einer Tatsache (theoretisch) stets möglich ist. In der Praxis gibt es jedoch auch Tatsachen, an denen wir faktisch niemals zweifeln würden, weil sie durch einen Beweis belegt sind. Unter einem Beweis versteht Hume die vielfach wiederholte Erfahrung einer ausnahmslosen Regelmäßigkeit. Als Beispiel nennt er das tägliche Aufgehen der Sonne. An der Tatsache, dass die Sonne morgen wieder aufgehen wird, würden wir nach Hume nur dann zweifeln, wenn auch ihr Gegenteil durch einen Beweis belegbar wäre. Ein solcher Fall, in dem Beweis gegen Beweis steht, hat sich faktisch aber noch nie ereignet. In den Bereich bloßer Wahrscheinlichkeit fallen schließlich alle Annahmen über Tatsachen, an denen zu zweifeln möglich und angebracht ist. Beim Wurf mit einem sechsseitigen Würfel ist es wahrscheinlicher, dass keine Sechs fällt, als dass sie fällt – aber sie könnte trotzdem fallen. Hume nennt diese [35]mathematische Art der Wahrscheinlichkeit die Wahrscheinlichkeit des Zufalls ( probability of chances ). Von ihr unterscheidet er die Wahrscheinlichkeit der Ursachen ( probability of causes ), die sich nicht aus bloßem Nachdenken ergibt, sondern Erfahrung voraussetzt. Der Verzehr von Rhabarber wirkt meistens abführend, aber keineswegs immer. Daher ist es nicht sicher, sondern nur wahrscheinlich, dass dieser Effekt bei einem erneuten Verzehr wieder eintritt. Es wäre auch möglich, dass andere, uns unbekannte Ursachen diese Wirkung im Einzelfall verhindern. (Vgl. T 1.3.11.3–13; SBN 124–130; EHU 6.1–4; SBN 56–59.)
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