Maria hatte die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Hände gestützt. Sie sah aus wie ein Kind, und Kristina zögerte einen Augenblick. Vielleicht sollte sie sich nicht bemerkbar machen. Fast alle Kinder haben das Problem, daß man sie nicht in Ruhe trauern läßt.
Sie ließ Maria in Frieden, was auch immer es war, worüber sie trauerte. Aber sie ging nicht weg. Sie holte sich eine Tasse Kaffee, setzte sich an einen entfernten Tisch und nahm ihr Buch zur Hand, dessen Einband sie unter einer schwarzen Plastikfolie verborgen hatte, um kein Aufsehen zu erregen und nicht als Snob zu gelten.
Wenn jemand sie fragte, was sie gerade las, pflegte sie zu antworten, es sei ein Kitschroman, nur so zum Zeitvertreib. Auf die meisten Frager hatte diese Auskunft eine merkwürdig beruhigende Wirkung.
Sie schlug das Kapitel über die Trauer auf, in dem der Verfasser schrieb, daß der Mensch weniger trauern würde, wenn er die Trauer nicht als Pflicht betrachtete.
Trauern sei eine Verpflichtung, sich zu freuen dagegen nicht. Weiter war sie noch nicht gekommen.
Das Licht im Raum wuchs, so unmerklich, wie Fingernägel wachsen.
Maria stand auf und ging weg, ohne ihre Chefin zu bemerken. Das war auch nicht wichtig.
Wichtig war nur, daß die Chefin dort saß.
Am nächsten Tag kam ein Anruf vom Krankenhaus Huddinge. Eine einfache Frage. Was sollte mit der Leiche des unbekannten Jungen geschehen?
Die anderen Opfer waren von ihren Angehörigen abgeholt worden. Jetzt war nur noch der Junge übrig, und das Krankenhaus konnte den Körper nicht beliebig lange aufbewahren.
Auch für Kristina war die Situation neu. Sie fragte, ob es für solche Angelegenheiten eine vorgeschriebene Routine gäbe.
Natürlich, eine Routine gab es für alles und jedes. Wenn die Polizei von einem Verbrechen ausging, konnte sie beantragen, daß der Leichnam aufbewahrt wurde. Wenn nicht, würde er im Beisein des Krankenhauspfarrers eingeäschert werden.
Die Frage war, mit anderen Worten, ob Kristina den Verdacht auf ein Verbrechen plausibel machen konnte. Das konnte sie nicht.
»Steht schon fest, wann die Einäscherung stattfinden soll?«
»Nicht genau, aber es wird sicher irgendwann unter der Woche sein, wenn der Krankenhauspfarrer Zeit hat.«
Kristina sagte, sie würde wieder anrufen, spätestens am folgenden Tag.
Sie hätte gern gewußt, wie der Junge an Bord des verunglückten Flugzeugs gekommen war, wer ihn mitgenommen hatte und warum – aber sie hatte keine Gründe dafür, ein Verbrechen zu vermuten, und hätte sie welche gehabt, wären sie ziemlich irrational gewesen. Sie hatte nur das Gefühl, daß etwas nicht stimmte. Reichte das aus?
Sie dachte daran, mit der Staatsanwältin zu telefonieren, überlegte es sich dann aber anders. Sie würde sie besuchen. Sie brauchte einen Spaziergang, um ihre Argumente zu schärfen, sie wußte, daß Mitsuko zuviel zu tun hatte und nicht bereit sein würde, Zeit und Ressourcen in eine Gespensterjagd zu investieren.
Mitsuko saß in ihrem ungemütlichen Büro. Durch das einzige Fenster war ein Garagentor zu sehen, auf das jemand in riesigen Buchstaben das Wort Pimmelgesprüht hatte. Man sah deutlich, daß sie geweint hatte. Ihr sonst so sanfter Blick war stumpf. Sie bemühte sich nicht einmal, es zu verbergen. Kristina entschuldigte sich und wollte wieder gehen, aber Mitsuko hielt sie zurück.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Könnte man den Antrag stellen, daß die Leiche bis auf weiteres aufbewahrt wird?«
»Weshalb?«
Kristina sprach von ihren Ahnungen, davon, daß etwas nicht stimmte, aber plötzlich wurde ihr klar, wie lächerlich das klang.
Zugleich hatte sie den Eindruck, daß Mitsuko beunruhigt war, in ihrer Stimme schwang so etwas wie Furcht mit.
Zwischen ihnen schien der Boden vermint zu sein. Für zwei vollkommen vernunftgeleitete Geschöpfe wäre die Sache gleich erledigt gewesen. Mitsuko hätte alles mit einer Handbewegung abtun können: Keine Gespensterjagd, wir haben genug andere Probleme.
Sie waren aber nicht vollkommen vernunftgeleitet. Sie waren ganz einfach zwei Wesen, die einander beschnupperten und etwas wahrnahmen, das sie nicht in Worte fassen konnten, und die Luft zwischen ihnen vibrierte von unausgesprochenen Mitteilungen.
Es war Mitsuko, die als erste einen Entschluß faßte.
Sie versuchte, ihre Stimme so neutral wie möglich klingen zu lassen, und fragte Kristina, ob sie Zeit habe, mit ihr etwas zu trinken. Es war bald fünf Uhr, und ein kühles Bier hat noch niemandem geschadet.
Sie gingen in »Harrys Bar«, die in der Nähe des Bahnhofs lag. Auf dem kurzen Spaziergang wurden sie zehn Kronen an zwei sehr salopp gekleidete Herren los, die auf einer Bank saßen und sich eine Flasche Schnaps teilten, aber trotzdem noch Zeit hatten, sich bei den Vorübergehenden zu erkundigen, ob sie etwas Kleingeld entbehren könnten.
Mitsuko, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln fuhr, weil sie sich als alleinerziehende Mutter und stellvertretende Staatsanwältin kein Auto leisten konnte, hatte ausgerechnet, daß es sie jeden Tag mindestens einen Hunderter kosten würde, wenn sie unterwegs jedem, der sie darum bat, einen Zehner gäbe.
Kristina bemerkte, das sei genau das, was sie an Parkgebühren zahlte. Beide wußten, daß sie nur so dahinplauderten, sie hatten beide ihre Aufmerksamkeit schon auf das Gespräch gerichtet, das gleich stattfinden sollte.
In »Harrys Bar« wimmelte es nicht gerade von Leuten. Es war noch zu früh. Der Richter Anders Berlin saß dort bei einem Bier und las. Er nickte ihnen freundlich zu, aber es war offenkundig, daß er keine Gesellschaft wollte.
An der Theke standen zwei jüngere Männer, vermutlich Arbeitslose, tranken Bier und füllten Tippscheine aus.
Der Barmann polierte Gläser und wechselte hin und wieder ein paar Worte mit den Tippern, die jedesmal in ein brüllendes, testosteronhaltiges Gelächter ausbrachen.
Mitsuko bestellte ein Glas Weißwein, Kristina ein Bier. Sie setzten sich in den hinteren Teil des Lokals, wo die Lampen über den Tischen schon eingeschaltet waren.
Es gibt zwei Sorten von Überraschungen. Entweder überraschen uns die Leute damit, daß sie genau das tun, was wir von ihnen erwarten, oder sie verhalten sich so, wie wir es nie vermutet hätten.
In diesem Fall geschah das letztere.
Sie schafften noch eine zweite Runde, bevor Mitsuko fand, daß der richtige Augenblick gekommen sei. Ohne Vorwarnung öffnete sie ihr Herz, ungefähr so, wie man im Sommer eine reife Wassermelone öffnet.
Mit neunzehn war sie ihm begegnet, während ihres ersten Jahres auf der Universität. Er war ihr Dozent, neununddreißig, mit seiner Jugendliebe verheiratet, drei Kinder. Jeden Augenblick konnte er zum Professor ernannt werden, er hatte unermüdlich darauf hingearbeitet, seine Dissertation hatte Epoche gemacht.
Bis dahin war Mitsuko nur mit einem Klassenkameraden auf dem Gymnasium zusammengewesen, und diese Beziehung war zerbrochen, als sie zum Studieren nach Lund ging. Zuerst hatten sie noch Briefe gewechselt, miteinander telefoniert, sich eingebildet, daß sie einander vermißten. Aber das war nicht wahr. In den Weihnachtsferien, als Mitsuko nach Hause fuhr und ihn wiedersah, wußte sie, daß es vorbei war. Zu Ende, so wie der Sommer zu Ende geht. Er war ein intelligenter, sensibler Junge, er war verständnisvoll und machte keine Szene. Er küßte sie auf die Stirn und sagte, er würde sie niemals vergessen.
Das Beste an dieser Liebesgeschichte war ihr Schluß. Mitsuko entdeckte, daß die Trauer genauso reizvoll sein konnte wie die Liebe selbst. Neue Räume taten sich in ihr auf, sie hatte ihren Horizont erweitert, und als sie nach Lund zurückkehrte, hatte sie einen klaren Kopf und war bereit, ein Verhältnis mit dem Mann zu beginnen, den sie schon ein Semester lang begehrt hatte, ohne es sich selbst einzugestehen.
Читать дальше