Theodor Kallifatides
Der sechste Passagier
Saga
Es war ein regnerischer Sommer gewesen, aber in der zweiten Augustwoche kam von Westen her überraschend ein gewaltiges Hochdruckgebiet und nötigte die Bewohner Stockholms, ins Kühle zu flüchten.
Hauptkommissarin Kristina Vendel, dreiunddreißig Jahre alt, lag unter einer Eiche im Erholungsgebiet von Lida Gård. Alte Eichen sind etwas Schönes, ihr Schatten ist sozusagen weiblich, man fühlt sich wie unter einem luftigen Rock.
Sie hatte ein aufgeschlagenes Buch neben sich, dachte aber nicht ans Lesen.
Als sie jung war, hatte sie die Welt verändern wollen. Es dauerte ein paar Jahre, bis sie erkannte, daß sie noch nicht einmal imstande war, sich selbst zu ändern. Seither lebte sie im inneren Exil. Wie die meisten Menschen.
Es war Sonntag. Von fern hörte man eine Kirchenglocke. Der Himmel war wolkenlos, das milchig blaue Licht wanderte mit gleichbleibender Geschwindigkeit, das Leben ging seinen Gang. Auch in diesem Jahr würde Island wieder um einen Zentimeter wachsen, die Baumstämme würden neue Jahresringe bekommen, und sie würde ein Jahr älter werden.
Sie legte sich flach auf den Rücken. Durch das Laub der Eichenkrone sah sie, wie ein kleines Propellerflugzeug am Himmel rasch an Höhe verlor. Es steuerte vermutlich die alte Militärlandebahn an, die das Verteidigungsministerium aufgegeben und dem Fliegerclub von Botkyrka zur Verfügung gestellt hatte. Schweden rüstete ab, es waren keine Feinde mehr da, höchstens noch die Elche.
Völlig entspannt unter der zweihundertjährigen Eiche, mit einem langen, breiten Tag vor sich – wenn Tage lang sind, können sie ebensogut breit sein –, hatte sie beinahe ein Gefühl von Allmacht. Beinahe, denn aus der Sicht des Piloten in dem kleinen Flugzeug dort oben war sie wohl nichts als ein großer, glänzender Wurm.
Die Vorstellung machte sie übermütig.
Sie spreizte ihre Schenkel, langsam, vorsichtig, ungefähr so, wie man ein quietschendes Gartentor öffnet, wenn man nicht gehört werden will. Sie wünschte sich, jemand anders würde es tun, aber es war niemand da. Ihr Mann hatte nach dreizehn Jahren Ehe das Weite gesucht. Seit ein paar Monaten war ihr Bett leer.
Sie schloß die Augen, sanft strich ihre Hand an der weichen Innenseite des Oberschenkels entlang. Zögernd näherte sie sich der empfindlichsten Stelle, wurde entschiedener, drängender. Sie atmete stoßweise, um den Genuß zu verlängern, hielt sich zurück, ein trotziges Lächeln auf den Lippen. Irgendwann, wußte sie, würde es zu spät sein, der Körper würde die Regie übernehmen, zwischen Millionen von Nervenzellen einen Kontakt herstellen, der nicht mehr rückgängig zu machen war, und die Nerven würden vibrieren, rhythmisch und unerbittlich wie das Meer.
Als der Orgasmus kam, ließ ein ohrenbetäubender Lärm den Boden erzittern.
Überaus passend.
Noch im Nachbeben ihres Körpers wurde ihr klar, was für ein Geräusch das war.
Das Flugzeug. Es war abgestürzt.
Ihr Gehirn hatte die Erkenntnis schon registriert, bevor sie in ihr Bewußtsein drang.
Wenn es stimmte, dann würde irgendwann ihr Mobiltelefon klingeln. Sekundenlang war sie in Versuchung, es abzuschalten. Flugzeugunglücke sind schrecklich, aber unter kriminalistischem Aspekt meist uninteressant.
Noch einmal tief durchatmen, um den letzten Rest von Wollust zu verjagen – sie bereitete sich darauf vor, ihre Pflicht zu tun. Sie sammelte ihre Sachen auf, packte die Thermosflasche aus und goß sich eine Tasse Kaffee ein, die sie in einem Zug austrank. Sie hatte das Telefon nicht abgeschaltet.
Die Menschen verließen ihre schattigen Verstecke, kamen von allen Seiten herbeigerannt. Es war, als sei ein Krieg ausgebrochen.
Sonntag, der elfte August, war vorüber, durchgerissen wie ein Blatt weißes Papier.
Der Getarsee ist nicht besonders groß. Von einem Aussichtspunkt, der hoch genug liegt, kann man ihn ohne weiteres überblicken. Er ist zweieinhalb Kilometer lang, und seine breiteste Stelle mißt dreihundert Meter. Er liegt eingebettet in eine Felsspalte auf dem Hochplateau des Hanved, und Freizeitangler wissen, daß das Flüßchen Kagghamra aus ihm entspringt, eines der wenigen Gewässer, in denen sich noch Lachsforellen tummeln. Der Getarsee ist ziemlich kalt, obwohl er flach ist, nirgends tiefer als drei Meter. Nur an der südlichen Landzunge fällt das Ufer steil ab, bis auf fünfundzwanzig Meter Wassertiefe.
Der Zufall wollte es, daß das Flugzeug genau dort abstürzte. Die halbnackten Sonnenanbeter sahen es langsam versinken.
Kristina Vendel rannte zu ihrem Fiat Uno. Viele Leute waren unterwegs zu ihren Autos. Eine Katastrophe ist immer eine Volksbelustigung, wenn auch von der brutalen Sorte. Man spricht es nicht aus, aber man wird durch solche Ereignisse daran erinnert, daß man noch unter den Lebenden weilt – eine Tatsache, die man in der Lethargie des Alltags oft vergißt.
Eigentlich wußte sie nicht, was sie tun sollte. Es hatte keinen Sinn, auf eigene Faust zur Unfallstelle zu fahren. Was hätte sie dort ausrichten können? Sie fuhr statt dessen zur Landebahn. Vielleicht hatte man dort noch gar nichts von dem Unglück mitbekommen.
Weit gefehlt. Man hatte Katastrophenalarm ausgerufen, die Feuerwehr benachrichtigt, eine Notlandung vorbereitet. Die dann nicht stattfand.
Bengt Lagerrud, der Verantwortliche auf dem Flugplatz, war ein Mann jenseits der mittleren Jahre, der diesen Übergang drahtig und mit eingezogenem Bauch bewältigt hatte. Er trug Jeans und ein kariertes Hemd; kurzum, er hatte beschlossen, jung zu bleiben, und es war leicht zu erraten, daß seine Lieblingsbeschäftigung nicht Fernsehen war. Jetzt war er im Begriff, mit seinem Jeep zu dem verunglückten Flugzeug zu fahren. Ohne Umschweife bot er Kristina an, mitzukommen, denn er hatte sie sofort wiedererkannt.
In Huddinge war sie binnen kurzem eine Person des öffentlichen Lebens geworden, nachdem sie einen Mordfall in Stockholms gehobenen Kreisen aufgeklärt hatte. Ihr Porträt war in den Abendzeitungen erschienen, man nannte sie »die philosophische Polizistin«, wegen ihres Philosophiestudiums in früheren Zeiten. Dem Lokalblatt war das noch nicht genug, dort wurde sie erhöht zur »Philosophin, die über Huddinge wacht«. Sogar im Fernsehen war sie aufgetreten, um mit Fachleuten, Tätern und ganz gewöhnlichen Idioten über Kriminalität zu debattieren.
Kristina stellte ein paar Fragen, und Lagerrud konnte sie alle beantworten.
Das Flugzeug war zum Flughafen Bromma unterwegs gewesen, aber dann hatte der Pilot um Erlaubnis gebeten, die Landebahn des Fliegerclubs benutzen zu dürfen. Er hatte keinen Treibstoff mehr, die Motoren setzten aus. Natürlich bekam er die Genehmigung, und unter normalen Umständen hätte es überhaupt keine Probleme gegeben. Man kann sehr gut ohne Motorkraft landen, Piloten sind für solche Situationen ausgebildet. Doch das Flugzeug hatte die Landebahn gar nicht erreicht. »Kann sein, daß der See schuld war. Über Seen und Talsenken gibt es immer wieder tückische Luftströmungen.«
Wieso war der Treibstoff ausgegangen? Was das betraf, so hatte Lagerrud zwei Theorien. Nach der ersten waren kräftige Gegenwinde aufgekommen, die den Treibstoffverbrauch stärker ansteigen ließen, als der Pilot einkalkuliert hatte. Das war nichts Ungewöhnliches. Nach der zweiten hatte sich Eis in den Vergasern gebildet.
Eis? An einem so warmen Sommertag?
Lagerrud erklärte gedudig, daß man mit Eisbildung jederzeit rechnen müsse. Wenn man die Landung vorbereitet, schaltet man den Motor auf Leerlauf. Dann genügt es, eine feuchte Wolke zu durchqueren, und schon frieren die Vergaser zu. Deshalb hat man ein System zur Lufterwärmung installiert. Vielleicht hatte der Pilot vergessen, dieses System zu betätigen, oder es hatte nicht funktioniert.
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