»Warum geht ihr denn nicht alle in den blühenden Klee?«, fragte ich, »er hat sehr viel Honig, das habe ich als Kind schon zuweilen probiert.«
Fräulein Bienchen lächelte. »Ja, das möchten wir wohl«, sagte sie, »und die jungen unerfahrenen Bienen probieren es auch, aber unsere Zunge ist zu kurz. Zeigt mal die Eure, Waldbruder!«
Ich streckte meine Zunge aus, soweit es ging. »Großartig!«, rief Bienchen bewundernd aus, »nur ein wenig zu plump. Unsere Tante, Frau Hummel, hat auch eine lange Zunge, nicht so lang wie Eure, aber feiner. Die kann mit dem Klee fertigwerden. Sie rief uns zu: Kinder, dies ist nicht für euch, geht auf die Waldwiese, da stehen viele Blumen mit kurzen Hälsen. Die will ich euch alle überlassen. Dann bummelte sie gemütlich zum nächsten Kleekopf und streckte ihre lange Zunge hinein – ach, es ist der schönste Traum meines Lebens, dass ich es auch noch zu einer solchen Zunge bringe! Ich mache jeden Abend, ehe ich zu Bett gehe, gymnastische Zungenübungen. Genug, wir flogen auf die Waldwiese und fanden Arbeit in Fülle. Aber, o weh, da kam ein dicker Frosch herangehüpft.
Ich rief ›Achtung‹, doch es war zu spät. Er hatte mein Schwesterchen, das liebe Linchen, schon heruntergeschluckt. Sie hat ihn noch schnell gestochen, er sprang in den Graben und sitzt wahrscheinlich noch jetzt dort im Wasser und kühlt seinen dicken Kopf. Aber das gute Linchen ist hin. Wir hatten eine reiche Ausbeute, und da wurden wir übermütig.
Meine Schwester Finchen schlug vor, wir wollten einmal in den Wald fliegen und sehen, was dort wohl für Blumen blühten. Ich fürchtete mich, schließlich ließ ich mich bereden. Ach, es war schön, aber auch unheimlich. Alle Augenblicke stieß ich mir den Kopf an einem Zweig. Als wir über den Waldbach flogen, fiel Finchen hinein und schrie jämmerlich. Ich wollte ihr helfen. Da kam eine Forelle geschossen, wie ein Blitz so schnell, und verschlang mein armes Schwesterlein vor meinen Augen. Vor Schrecken bin ich selbst auch ins Wasser gefallen, konnte aber zum Glück ein Hölzchen erwischen und mich daran festklammern. Da habt Ihr mir geholfen, guter Waldbruder, und das werde ich Euch nie vergessen.«
Fräulein Bienchen probierte ihre feinen, silbergrauen Flügel. Sie waren trocken geworden und schwirrten lustig in der Sonne.
»Nun muss ich heim«, sagte sie, »ach, was wird die Frau Königin sagen, dass ich allein komme und dass Minchen, Linchen und Finchen tot sind. Den Honig bringe ich Euch morgen, Waldbruder.« Damit machte sie eine zierliche Verbeugung, hob sich in die Lüfte und verschwand.
Zu dem Honigfeste, liebe Kinder, lädt euch euer Waldbruder freundlichst ein.
Gerade neben meiner Waldklause wohnt Frau Nachtigall in einem alten Holunderstrauch. Zu dem Bächlein nebenan geht sie trinken und baden, unter dem vorjährigen Laube am Boden findet sie fette Würmlein, schöne, saftige Braten, und zwischendurch singt sie ein Lied nach dem anderen. Zuweilen kann ich nachts nicht schlafen, weil ich Herzklopfen bekomme von ihrem wunderschönen Gesange.
Gestern Abend hättet ihr hier sein müssen. Da hat sie ein großes, herrliches Konzert gegeben. Die Luft war feucht und warm und still, gerade wie sie es besonders gern hat. Ich saß vor meiner Klause auf dem Bänkchen und hörte zu.
Zuerst störten mich die Maikäfer, die in Scharen durch die Luft summten. Es sind etwas unsolide Gesellen, sie kamen so spät noch aus dem Wirtshaus und waren ein wenig angetrunken. Ich glaube, es war ein Fässchen mit Maientau frisch angestochen worden; die braunen Burschen torkelten bedenklich und summten Trinklieder.
Frau Fledermaus, die gerade Polizeiwache hatte, war sehr strenge und hat mehrere eingelocht. Sie bringt sie in ihrem Magen unter, weil wir kein Arrestlokal haben. Es soll nächstens eins gebaut werden, Herr Igel hat es beantragt. Der gehört auch zur Polizei und hat ebenfalls verschiedene Nachtbummler verhaftet. Natürlich musste er sie auch in seinem Magen unterbringen. Allmählich wurde es ruhig, und ich konnte den herrlichen Gesang ungestört genießen. Wie schön es war, lässt sich gar nicht sagen. Ich meinte, dass lauter goldene Perlen durch das Dunkel rollten.
Als sie gerade eine Pause machte, huschte Frau Eule neben mich auf die Bank. Sie hat die Oberinspektion bei der Nachtpolizei.
»Na, Waldbruder«, sagte sie gut gelaunt, »nun müsst Ihr doch zugeben, dass die Nacht viel schöner ist als der Tag.«
»Wenigstens«, sagte ich, »singt Frau Nachtigall bei Nacht viel schöner als am Tage, und das ist schon etwas wert.«
Frau Eule verhaftete einen dicken Nachtfalter, der ihr unvorsichtigerweise zu nahe gekommen war, und sagte dann: »Frau Nachtigall ist eine kluge und geschmackvolle Person. Sie weiß, dass wir Nachtvögel ein kunstverständiges Publikum sind. Wisst Ihr auch, Waldbruder, wie sie zu ihrer schönen Stimme gekommen ist?«
Ich wusste es nicht, und da hat sie es mir erzählt. Frau Eule ist furchtbar gelehrt und weiß mit allem Bescheid.
»Als der liebe Gott uns Vögel geschaffen hatte, war er in besonders guter Laune, weil ihm das Werk so vortrefflich gelungen war. Darum durften wir alle einen Wunsch aussprechen, er wollte ihn erfüllen. Da gab es ein großes Geflatter und Gebettel. Viele wünschten sich bunte Farben, so der Papagei und Paradiesvogel und Buntspecht und Stieglitz und Pfau, der Strauß schnelle Beine, der Falke ein scharfes Auge, die Ente Schwimmfüße, der Zaunkönig vergnügten Sinn, der Storch lange Beine, die Schnepfe einen langen Schnabel, und so ging es weiter ohne Ende.«
»Was habt Ihr Euch gewünscht, Frau Eule?«, warf ich dazwischen.
Sie guckte mich von der Seite an und knurrte: »Wie könnt Ihr noch lange fragen, Waldbruder? Ich habe mir Weisheit gewünscht.«
Ich entschuldigte mich und bat, sie möchte weitererzählen.
»Nun gut«, fuhr sie fort, »als alle bekommen hatten, was sie wünschten, sah der liebe Gott ein schlankes, unscheinbares Vögelchen auf dem Zweige sitzen, das ihn mit blanken Augen immerfort anschaute. Nun, sagte der Herrgott, was willst du denn, Kleine? Ach, lieber Herrgott, antwortete das Vögelchen leise, ich bin zufrieden mit dem, was ich habe. Da fragte der liebe Gott: Warum schaust du mich denn so an? Weil ich mich herzlich freue, dass du so gut bist, sagte das Vögelchen. Da lächelte der Herrgott so freundlich, dass der Sonnenschein noch einmal so hell wurde. Du gutes Ding, sagte er und strich mit dem Finger über die Kehle des Vögelchens, du sollst mein Lob singen, schöner als alle anderen. Seitdem hat Frau Nachtigall eine wunderschöne Stimme, und man sagt, dass sogar die kleinen Engelbüblein zuweilen vom Himmel kommen, um von ihr die schönsten Triller zu lernen.«
»Bravo, Frau Eule«, sagte ich von Herzen, »dass Ihr Euch Weisheit ausgebeten habt, hört man schon an Euren schönen Geschichten.«
Das Kompliment tat ihr wohl. Sie strich ihre Federn glatt und reckte sich hoch auf. Dann verhaftete sie flink einen späten Maikäfer und rief zu Frau Fledermaus, die gerade vorbeiflog, in amtlich strengem Tone hinüber: »Alarmiert sofort die ganze Polizei, heute ist die Nachtschwärmerei zu arg.«
Dann wandte sie sich freundlich zu mir. »Ihr seid ein verständiger Mann, Waldbruder, mit Euch kann man ein vernünftiges Wort reden. Nun will ich Euch noch mehr erzählen von Frau Nachtigall. Sie kann zaubern mit ihrer Stimme. Wisst Ihr auch, woher die schönen Rosen kommen? Ich meine die Gartenrosen mit ihren herrlichen Farben.«
»Nun«, sagte ich, »die sind von den Menschen gezüchtet worden.«
»Bildet Euch nur nichts ein«, lachte Frau Eule spöttisch. »Freilich, jetzt züchtet Ihr weitere Sorten, aber die ersten richtigen Gartenrosen hat Frau Nachtigall hervorgezaubert. Ich will es Euch erzählen.
Früher gab es bloß die wilde Heckenrose. Sie ist ja auch schön, aber nur einfach und etwas blass. Duften tut sie nur wenig. Nun, Frau Nachtigall hatte immer eine besondere Vorliebe für diese Blume. Da standen einmal drei Rosensträucher dicht zusammen, sie waren voll von Knospen. Frau Nachtigall saß ihnen gegenüber in einem Dornenstrauche, und da hat sie so übermäßig schön gesungen, dass die Rosenknospen anfingen zu schwellen vor Glück und Seligkeit. Am nächsten Morgen waren lauter gefüllte Rosen aufgeblüht, aber sie waren noch blass. Da setzte sich Frau Nachtigall in den ersten Strauch und sang ihre lustigen Lieder. Am nächsten Morgen waren die blassen Rosen ganz rot geworden vor Freude. Da setzte sich Frau Nachtigall in den zweiten Strauch und sang ihre traurigsten Lieder. Am nächsten Morgen waren die Rosen weiß geworden vor lauter Leid. In den dritten Strauch baute Frau Nachtigall ihr Nest. Da wurde er so stolz, dass er alle seine Blumen vergolden ließ. So entstanden die gelben Rosen.«
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