Aus den kleinen Kindern wurden allmählich größere, Gunther und Roderich besuchten schon das Gymnasium, Vanadis blieb mit ihrer Ausbildung nach wie vor auf Mutter Natur, den väterlichen Bücherschrank und den Unterricht der Großmutter angewiesen, denn mit Mädchenerziehung befaßte sich die Gesetzgebung noch nicht: je weniger sie wußten, für desto wertvoller galten sie. Und da Frau van der Mühlen selber ausschließlich von französischen Bonnen und Gouvernanten unterrichtet worden war, wie es damals der deutsche Adel für notwendig erachtete, so konnte sie auch der hörbegierigen Enkelin nicht mehr geben, als was sie selber empfangen hatte. Das war kunterbunt genug und mischte sich nun mit dem Kunterbunt in dem Köpfchen des Kindes. So wußte die alte Dame zwar aufs genaueste Bescheid über die Etikette, die beim Lever der Marie Antoinette geherrscht hatte, konnte auch viele prickelnde Anekdoten von dem Hof des Ersten Napoleon erzählen, die sie zu Louis Philipps Zeit als junge Gesandtin eines kleinen deutschen Staates in Paris gehört hatte, wußte aber um so weniger von ihrem eigenen Vaterland; dieses war zur Zeit ihres Lernens für ihre Standesgenossinnen noch nicht entdeckt gewesen. Über die Geographie von Deutschland besaß sie ein französisches Handbuch, von einem gewissen Abbé Gauthier verfaßt, aus dem sie selber ehedem ihre Kenntnisse geschöpft hatte. Da hieß es zum Beispiel bei Erwähnung der Lüneburger Heide von den Heidschnucken: „Les Heydschnukes (gesprochen „Edsnük“), petite population noire de la Vestfalie.“ Infolgedessen hatte Frau van der Mühlen unverbrüchlich geglaubt, daß die Heidschnukken Menschen wären, so etwas Ähnliches wie die Heiducken oder die Seldschuken. Erst durch ihre zur Schule gehenden Enkel wurde der Irrtum aufgeklärt, und die Großmutter lachte lustig mit, sooft sie mit den Heidschnucken geneckt wurde, denn sie wollte nicht in Altersweisheit über der Jugend thronen. Vanadis jedoch, die sich ganz fest in die Vorstellung von einer merkwürdigen schwarzen Zwergenrasse in der Lüneburger Heide eingebissen hatte, widersprach mit zornigen Tränen und wollte das wimmelnde Zwergenvolk, das sie sich mit Pfeil und Bogen, schwarz behaart von Kopf zu Fuß dachte, nicht fahrenlassen. Unendliches hatte das Kind mit seinen frühen Jahren nach und nach im unersättlichen Lesehunger verschlungen. Es war ganz gleich, was in ihre Hände fiel, ob ein Schmöker oder ein Klassiker, sie konnte alles gebrauchen: die Bücher fügten sich mit einem höchst wunderbaren Anpassungsvermögen ihrer Innenwelt ein, die immer so viel davon aufnahm, als ihr eine natürliche Nahrung gab. Am schönsten war es, wenn sie aus den brüderlichen Bücherschätzen Coopers Indianergeschichten entwenden konnte. Mit diesen erstieg sie gerne die höchsten Zinnen von Tronje und las und las. Dann dehnten sich die Prärien um sie, die Flüsse der Neuen Welt rauschten, flinke Kanus, von Rothäuten gesteuert, schossen darüber hin, wilde Reiter auf schnellen Rossen warfen sich in die Fluten, um weiße Mädchen zu retten; es war ein herrliches Leben. War sie mit den Indianern fertig, so begab sie sich in das äußerste Thule, um mit Asen und Thursen zu leben; das war fast ebenso schön. Es war ihr unverständlich, daß es Leute gab, die ein Buch an einer bestimmten Stelle niederlegten, um wieder in ihrer leiblichen Umwelt zu sein und des andern Tags an derselben Stelle weiterzulesen. Sie grämte sich, wenn ihr die Nacht dazwischenkam. Neben sich hielt sie stets einen Vorrat von Tannzapfen aufgespeichert zum Schutz gegen etwaige Angriffe, aber es bedurfte dessen nicht mehr, nach dem Schicksalstage der Lumbell wurde Tronje kein zweites Mal gestürmt. Selbst Roderichs Tätlichkeiten hatten aufgehört; wenn sie jetzt noch angegriffen wurde, so war es von seiten ihres Gunthers, der sie gern mit Knittelverschen neckte, worin er ihre Helden durchhechelte. Sie blieb ihm jedoch nichts schuldig, beide hatten eine Begabung für Sprache und Reim, die durch das viele Lesen gestärkt war, und wenn der Mutwille über sie kam, setzten sie sich zusammen auf ein Mäuerchen und bewarfen sich mit Trutzverschen.
Und nun rückte ihr zehnter Geburtstag heran, der im Hause festlich begangen werden sollte. Die Kleine sah ihm mit einer tiefen, feierlichen Bewegung entgegen. Nicht nur, weil jetzt der Zahl ihrer Lebensjahre die bedeutungsvolle Null angehängt werden sollte, sondern weil sie einem ganz großen Erlebnis entgegenging: sie wollte an diesem Tage heiraten. – Heiraten? Jawohl, und wen anders als ihren Längstgeliebten, Einzigen, den Herrn Egon von Solmar. Seit zwei Jahren war das fest bestimmt. Er hatte eines Tages in Gegenwart der Großen zu ihr gesagt: „An deinem zehnten Geburtstag heirate ich dich!“ – und wie erklärend hatte er gegen die Anwesenden hinzugefügt: „In Indien heiraten die Mädchen in noch früherem Alter.“ Seitdem hatte sie mit Ungeduld den Tag ersehnt, an dem sich ein so großer Wandel vollziehen sollte. Schon am Vorabend sah sie stille Vorbereitungen treffen wie für das Doppelfest einer Geburtstags- und Hochzeitsfeier. Blumen wurden geschnitten und Kränze gewunden. Annemarie, die Köchin, buk einen Kuchen von besonderer Feinheit und trug ihn in der Frühe mit zehn brennenden Lichtern vor ihr Bett. Die Großmutter brachte ein blühendes Myrtenstöckchen, wie man sie Bräuten schenkt, und über dem Arm hing ihr das duftige weiße Kleidchen, an dem man sie seit Wochen hatte sticken sehen. Dann klingelte die Post und brachte Brieflein und kleine Geburtstagsverse von den Freunden des Hauses, von den Freundinnen umfangreiche Schachteln mit vielen schönen und erwünschten Sachen drin. Frau Fanny wunderte sich, daß Egon, der sonst immer mit der Geburtstagssendung der erste war, diesmal nichts von sich hören ließ.
„Ich denke, er wird uns überraschen wollen und zu Mittag selber dastehen“, meinte die Großmutter.
Dies fuhr Fanny in die Glieder, daß sie rasch in die Küche eilte, daselbst noch ein wenig Unordnung zu stiften. Vanadis aber lächelte still in sich hinein: Er wird wohl in Person erscheinen, wenn er heute Hochzeit macht – und sie wunderte sich, daß die andern nicht soweit dachten.
Gunther hatte einen gutgefaßten Geburtstagsspruch ausgedacht, den die kleine, jetzt sechsjährige Esther, gleichfalls weiß gekleidet, mit einem Strauß in der Hand aufsagen mußte, und er selber überreichte dazu ein niedliches, von seiner eigenen Bastlerhand gebundenes Büchlein, in das sie künftig ihre Trutzverschen aufzeichnen wollten. Bruno und Enzio bliesen gewaltig auf ihren Trompeten, um auch zur Feier des Tages beizutragen, und Roderich zeigte seine Achtung vor der Herrin des Festes dadurch, daß er sich abseits hielt und sie den ganzen Tag weder ärgerte noch quälte.
Am Mittag hielt ein Wagen vor der Tür, und wie erwartet stieg Baron Solmar heraus. Er hielt in der einen Hand einen hohen, mit Seidenpapier verhüllten Blumenstrauß, in der andern ein kleines Saffianköfferchen, was er beides vorsichtig ins Haus trug, während Carlo, sein florentinischer Kammerdiener, mit den ziemlich umfangreichen Koffern und Schachteln nachkam. Das Kind flog dem Ankömmling diesmal nicht auf der Treppe entgegen, ein Gefühl bräutlicher Befangenheit hielt sie bei ihrem Geburtstagstisch fest. So empfing sie strahlend, aber still die Geschenke ihres Freundes. Aus dem Seidenpapier kamen herrliche hochstengelige Rosen, die dunkelroten, duftgesättigten, die sie vor allen liebte, zum Vorschein, für diese Jahreszeit eine Seltenheit. Das Köfferchen enthielt in Silber gefaßte Kämme und Bürsten, kristallene Fläschchen mit Wohlgerüchen, nebst allem Bedarf für die Handpflege, und es fehlte nichts, was ein zartgewöhntes Dämchen auf die Reise mitzunehmen pflegt.
„Das ist zuviel, Egon, du verwöhnst uns das Kind“, sagte Herr Folkwang.
„Zuviel?“ antwortete jener. „Jetzt kommt erst die Hauptsache.“
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