„Vanadis, viens jouer avec nous – Du werden sein Kutschèr, wir sein ’ferd.“
Ein zweiter hellerer Kopf erschien auf der Mauer und wiederholte die Einladung.
Zwei kleine Franzosen aus Nancy weilten seit einigen Wochen mit Mutter und Bonne in dem Nachbarhaus, dem erstere entstammte. Vanadis hatte von der Großmutter die Erlaubnis, mit ihnen zu spielen, und es war eingetreten, was diese voraussah, daß die äußerst sprachbegabte Kleine im Zeitraum weniger Wochen ganz von selbst den fremden Gästen so viel von ihrer Sprache ablernte, daß sie sich natürlich darin bewegte. Dieses schien der Großmutter, die selber nach dem damaligen Brauch adliger Familien noch eine ganz französische Erziehung genossen hatte, das A und O aller feineren Bildung zu sein. Da die Mittel ihres Schwiegersohnes nicht zu einer französischen Erzieherin ausreichten, wie sie selber und wie ihre Tochter eine besessen hatten, kam ihr diese Gelegenheit erwünscht, dem französischen Unterricht, den sie der Enkelin erteilte, durch die fremden Kinder spielend nachgeholfen zu sehen.
Und Vanadis spielte gerne mit den kleinen Franzosen, die besser angezogen waren und daher hübscher aussahen als ihre Brüder, auch immer schön gekämmt und mit rein gewaschenen Händen gingen, was man von diesen nicht sagen konnte. André, der Ältere, ein feines kränkliches Kind, war ihr stiller Verehrer; er brachte ihr zuweilen Süßigkeiten von seinem Nachtisch herüber oder eine Blume aus dem wohlgepflegten Garten seiner deutschen Verwandten. Aber der Jüngere, Gaston, erregte die Bewunderung des kleinen Mädchens durch seine katzenhafte Geschicklichkeit im Klettern und den Übermut, womit er auf den schon hochgeführten Balken eines Neubaus hin und zurück lief. Sie war einmal zugegen gewesen, wie das deutsche Fräulein, das die Knaben behütete, den Älteren in die Arme nahm und sagte: „André, du bist mein Liebling!“ – und wie sich da Gaston mit der Schulter dazwischenbohrte: „Und ich – ich bin dein Bösling, Fräulein!“ – worauf diese ihn wegschiebend sagte: „Jawohl, das bist du.“ Dem schnell fassenden Kinde war es aufgegangen, daß das Fräulein zu dieser Zurücksetzung wohl einen Grund haben mußte. Aber gleichwohl gefiel ihr der flinke, muntere Knabe, dessen Unarten mehr Geschick hatten als die ihrer Brüder, von Roderich ganz zu schweigen. Sie folgte also der an sie ergangenen Einladung.
Hinter dem Haus zwischen Fluß und Parkmauer lief ein Wiesenstreif, den ein schmaler Fußweg längs des Ufers einfaßte. Es war ein Lieblingsspielplatz der Nachbarskinder und ihre Rennbahn, worauf sie gern Wettläufe oder Wagenrennen veranstalteten. Dort warteten André und Gaston mit einem vierrädrigen Handwägelchen, sie nötigten das kleine Mädchen einzusteigen und wollten ohne weiteres mit ihr davonrennen, aber diese gebot Halt, weil sie nicht ohne Zaumzeug lenken könne. Gaston lief weg und brachte einen Strick, den Vanadis ihren beiden Rossen in den Mund legte, worauf sie selbst die Enden ergriff und „Hü!“ rief. Eine Peitsche brauchte sie nicht, es ging schneller, als ihr lieb war. Die beiden faßten die Deichsel und rannten los. Das Bächlein Lirili, das hier außen unter einer flachen Bohlenbrücke in den Fluß ging, war sonst die natürliche Grenze ihrer Rennbahn, in diesem regenlosen Sommer aber war es ausgetrocknet, so rasten die zwei Pferde mitten durch den Graben. Das Wägelchen kippte um, das kleine Mädchen fiel heraus, und die zweie liefen weiter, den gestürzten Wagen nachschleppend, ohne zu bemerken, daß die Insassin fehlte. Diese erhob sich heftig erzürnt und hatte nicht übel Lust zu weinen, doch der Stolz verhinderte es. Endlich merkten die beiden, was geschehen war, und kamen mit dem wiederaufgerichteten Wagen zurückgerannt. André blieb bedauernd bei dem Kinde stehen, aber Gaston schoß lachend davon, und Vanadis wandte dem Tröster unmutig den Rücken, als ob er an der Ungezogenheit des Bruders mitschuldig sei.
Das hinderte sie jedoch nicht, als Gaston ein paar Stunden später zwischen dem Fachwerk des Neubaus herumturnte und sich von ihr bewundern lassen wollte, in den Nachbarhof hinüberzuschlüpfen und auf seine Frage, ob sie sich zu ihm heraufgetraue, durch die Tat zu antworten. Da lief die Kleine furchtlos mit dem sicheren Gleichgewicht der Kindheit auf dem obersten Balken des schon ziemlich hoch gediehenen Baues, bis sie von Roderich gesehen wurde. Der Schlimme ging alsbald zu Tante Fanny, um Vanadis zu verklatschen. Diese gute, aber immer aufgeregte Frau kreischte laut, als sie das Kind in solcher Höhe sah, und schrie durchdringend über die Gartenmauer hinüber: „Vanadis, du fällst!“ Erschrocken blieb das Kind stehen, die eben noch sicheren Füßchen stockten, sie konnte nicht weiter. Doch faßte sie sich noch zum Glück, erreichte den Eckpfosten, an dem sie sich festhielt und von einem Querbalken zum andern gleiten ließ, bis sie den Boden wieder unter den Füßen hatte. Tante Fanny, die den ganzen Vorgang mit Geschrei begleitete, schloß jetzt beruhigt das Fenster. Gaston kam lachend auf dem Längsbalken herabgeritten:
„Bist du schwindelhaft?“
„Nein“, antwortete sie trotzig, „aber es heißt schwindlig.“ (Die Kinder waren angehalten, einander gegenseitig ihre Sprachfehler zu berichtigen.)
„Ich bin niemals schwindlig“, bemerkte der Knabe. „Warum sagt das Fräulein, daß ich ein Schwindler sei?“
Die Kleine blickte ihn verwundert an: „Das weiß ich nicht.“
Plötzlich begannen die Augen des Knaben zu funkeln, sein gallisches Blut war mit einer verfrühten Regung erwacht, daß er auf seine ahnungslose Gespielin zuschoß, sie blitzschnell in eine Ecke trieb und mit hart zustoßenden Fingern nach den kleinen Brüstchen greifen wollte, die noch gar keine waren. Zu Tode erschrocken stieß das Kind gellende Schreie aus und wehrte sich mit Fußtritten gegen den Angreifer, bis das Fräulein herzugestürzt kam und der Knabe Reißaus nahm. Die Kleine hielt ihr zerrissenes Kleidchen über der Brust zusammen und schämte sich fast zu Tode: es war ihr gefühlsmäßig aufgegangen, wenn ihr auch die Begriffe dafür fehlten, daß etwas Fremdes, Unreines sie berührt hatte, das von den Unarten ihrer Brüder und Roderichs grundverschieden war. Sie wollte auch dem Fräulein keine Rede stehen, sondern hatte nur den Trieb, die Schmach von sich zu waschen, vor sich selber wieder rein zu sein. Eilig lief sie über die herumliegenden Balken nach dem Flusse hinab, zog Kleidchen und Hemdchen bis zum Gürtel herunter und bog sich über die Böschung, um sich mit beiden Händen abzuspülen. Aber sie verlor das Gleichgewicht und stürzte ins Wasser. Der Fluß war nicht tief; ein Bauer, der in der Nähe arbeitete, zog sie heraus und trug sie triefend nach Hause. Sie hatte etwas Wasser geschluckt, war aber schon wieder bei Besinnung. Auf die erschrockenen Fragen der Umgebung antwortete sie nur, sie habe sich waschen wollen. Sie wurde zu Bett gebracht und mit warmen Tüchern gerieben und war nun wieder selig im Kinderland, denn das Häßliche war abgespült und den Strom hinuntergeschwommen. Die Großmutter saß bei ihr, erzählte Geschichten und hielt ihre Hand, bis sie einschlief. Und nie erfuhr ein Mensch, warum das Kind sich an jenem Tage im Flusse hatte waschen wollen.
Ein paar Tage später war die französische Familie abgereist. Das Dienstmädchen aus dem Nachbarhaus brachte ein Briefchen an Vanadis herüber. Es war mit großen ungleichen Buchstaben äußerst fehlerhaft in zwei Sprachen geschrieben und schloß:
„Chérie, ne m’oublie pas, je ne t’oublierai jamais.
Dein lieber unvergeßlicher André.“
Es war der erste Liebesbrief, den Vanadis empfing, und sie hütete ihn eifersüchtig, doch ohne viel nach dem Absender zu fragen. Von dem vormals bewunderten Gaston hörte sie das Mädchen erzählen, daß er alles im Hause beschmutzt und zerbrochen, die Tiere gequält und seinen gutherzigen älteren Bruder, der schwächer war, mißhandelt habe, kurz, ein wahrer kleiner Teufel gewesen sei.
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