»Und das hier ist Klaus, unser Jüngster!«, sagt Papa und zerrt Klaus hinter Mamas Hintern hervor.
»Hallo«, sagt Tomas mit trägem Nicken, fast ohne den Mund zu bewegen. Ben denkt, dass er sich jetzt abends nicht mehr aus dem Haus trauen wird. Und als ob Tomas seine Gedanken gelesen hätte, zieht er an der Kette an seiner Hose und ein riesiges Taschenmesser kommt zum Vorschein. Mamas Augen quellen hervor wie Popcorn und Papa schiebt Klaus wieder hinter sie.
»Was ist das denn?«, fragt er und es klingt ebenso interessiert wie dann, wenn er sich zu Weihnachten für die Zeichnungen bedankt, die Klaus ihm geschenkt hat.
»Wolltet ihr nicht irgendwelche Schlüssel aus der Treppe hervorfischen?«
Und ohne auf Antwort zu warten, begibt sich Tomas auf Bens Treppe auf alle viere. Mama, Papa, Klaus und Ben sehen von der Straße her zu. Drei Meter Sicherheitsabstand.
»Hier sind sie!«, sagt Tomas und winkt mit Papas Schlüsselbund. Er springt auf und kommt mit den Schlüsseln in der Hand auf sie zu. Die Eltern bedanken sich, worauf Tomas nur mit den Schultern zuckt und etwas Unverständliches murmelt. Dann dreht er sich zu Ben um.
»Komm doch nachher mal vorbei und sag meiner Schwester guten Tag, wenn du willst. Sie macht nur kurz einen Spaziergang mit Baldur.«
Dann geht er. Seine Arme sehen aus wie lange Schnürsenkel, die in seine Hosentaschen hängen. Ben bleibt stehen und schaut hinter ihm her, bis er bei den Briefkästen um die Ecke biegt. Dort spuckt Tomas ausgiebig auf die Treppe zum Luftschutzraum unter den Garagen.
»Bitte, hilf uns jetzt beim Tragen«, sagt Papa zu Ben.
Überall muss Baldur sein Bein heben. Er ist total verwirrt von den vielen Bäumen und den vielen neuen Gerüchen. Am ganzen Körper zitternd wirbelt er umher, beschnüffelt sabbernd Baumstämme, Pfosten und Büsche und hinterlässt überall einige Tropfen. Er ist so aufgeregt, dass Marie ihn fast nicht festhalten kann. Während sie hinter ihm herläuft, wickelt sie sich die Leine um die Hand. Sie traut sich nicht, ihn freizulassen. Es könnte ja sein, dass er abhaut, und Marie kennt hier keinen Menschen. Keinen Menschen außer Tomas, aber der zählt fast nicht. Der sitzt bloß im Haus und ist sauer. Fährt mit der Straßenbahn in die Stadt oder liegt auf seinem Bett und schickt seiner Freundin eine SMS nach der anderen. Als ob sie weiterhin zusammen sein könnten, jetzt, wo Tomas weggezogen ist. Marie begreift auch nicht, wie sich ihr Bruder das leisten kann. So ein Handy ist doch schweineteuer. Das sagt Papa jedes Mal, wenn sie sich auch eins wünscht. Schon komisch, dass Tomas eins haben darf, er verdient doch gar nichts. Marie dagegen bekommt Geld dafür, dass sie mit Baldur spazieren geht.
Sie hat ein paar gute Touren ausgetüftelt. Anfangs sah hier alles ganz gleich aus. Überall zweistöckige Reihenhäuser, immer vier aneinander, und alle waren dunkelbraun. Anfangs war Papa sauer, weil sein Chef ihm ein Mittelreihenhaus besorgt hatte statt eins am Ende, aber das scheint er jetzt vergessen zu haben.
Auf ihren Spaziergängen mit Baldur hat Marie herausgefunden, dass es eigentlich zwei Reihenhaussiedlungen sind, sie liegen nur so dicht beieinander, dass sie wie eine wirken. Es gibt das Obere Feld, wo sie wohnen, und das Untere Feld, zu dem eine andere Straße führt. Man kann nicht mit dem Auto von einer Siedlung zur anderen fahren, sondern muss einen langen Umweg machen, am Laden vorbei und an der Schule, aber zu Fuß oder mit dem Fahrrad hat man die Grenze in wenigen Sekunden hinter sich gebracht, ohne sie auch nur zu bemerken. Und dann hat Marie festgestellt, dass die Häuser doch nicht ganz gleich sind. Es gibt zwei- und dreistöckige Reihenhäuser, Winkelhäuser mit nur einer Etage und ganz hinten am Wald eine Reihe von Häusern, die Terrassenhäuser heißen und aussehen, als wären sie aus Legosteinen gebaut. Alles ist viereckig.
Zu diesen Häusern geht Marie nun, dann eine Treppe hinunter, einen Schotterweg entlang bis zum Wald. Baldur beruhigt sich ein wenig, wenn sie ihn an der längeren Leine laufen lässt.
»Los, komm!«
Marie fängt an zu rennen. Sie folgen einem Weg, der am Waldrand entlang zum Fußballplatz führt. Baldur rennt immer wieder um Marie herum, so dass sich die Leine um ihre Beine wickelt, aber sie wagt nicht, loszulassen. Vielleicht später mal, in ein paar Wochen, aber jetzt noch nicht.
In den sieben Tagen, die sie nun schon hier wohnt, hat sie nicht ein einziges Kind gesehen. Unterwegs ist sie immer nur alten Leuten begegnet, Marie und Tomas sind die einzigen jungen.
Baldur bellt, dass die Tannen nur so zittern. Sie rennen den ganzen Weg über den Hügelkamm, bis sie die kleine Sprungschanze erreicht haben. Dort setzt sich Marie auf die Sprungkante und lässt die Beine baumeln. Das Herz hämmert ihr im Hals, das T-Shirt klebt ihr am Rücken, und in ihren Knien spürt sie dieses schöne Zittern, das nach einem langen Lauf immer ganz von alleine kommt.
»Siehst du unser Haus?«, fragt sie in Baldurs schwarzes Fell hinein. Sein Nacken riecht warm und vertraut. Marie schlingt beide Arme um ihn und schnuppert, saugt Erinnerungen in sich auf. Sie schließt die Augen und sehnt sich nach so vielen Dingen, dass sie sich gar nicht zwischen ihnen entscheiden kann. Vor allem wünscht sie sich, dass Mama bald nach Hause kommt. Aber wenn Mama hier wäre, hätte Marie nicht Baldur. Das glaubt sie jedenfalls. Schließlich haben sie Baldur gekauft, als Mama ins Krankenhaus musste. Vielleicht müssen sie Baldur wieder hergeben, wenn Mama zurückkommt. Das hat allerdings niemand gesagt. Darüber wird nicht gesprochen. Mama wohnt schon seit einem Jahr nicht mehr zu Hause. Jetzt ist sie in ein Krankenhaus in dieser Gegend verlegt worden. Und da hat Maries Vater um Versetzung gebeten. Damit sie in ihrer Nähe sein können. Sie werden sie oft besuchen, hat er gesagt. Aber Marie hat Heimweh nach Nordnorwegen, nach Målselv. Nach ihrem Haus. Nach ihren Freundinnen. Und nach damals, als Mama zu Hause gewohnt hat und da war, wenn Marie aus der Schule kam.
Baldurs Herz klingt wie ein leises Dröhnen. Seine Zunge liegt auf Maries Arm und macht ihn ganz nass. Wenn sie jetzt nicht losrennt, wird sie anfangen zu weinen, und das will sie nicht. Das hat sie seit einem ganzen Jahr nicht mehr gemacht. Sie wird nie wieder weinen.
Maries und Bens erste Begegnung
»Komm, Baldur«, sagt Marie und steht auf. Aus ihrem Mund scheint gar kein richtiger Ton herausgekommen zu sein, daher sagt sie es noch einmal, bis er endlich reagiert. Sie laufen los, so schnell sie nur können. Die Schanzenabfahrt hinunter, über die Wiese und den Hang auf der anderen Seite hoch, durch den Wald, über den Schotterweg, die Treppe bei den Terrassenhäusern hoch und dann weiter durch das Obere Feld. Marie spürt ein regelmäßiges Pochen in ihrem Kopf, als ob er und nicht ihre Füße gegen den Boden schlügen. Baldur springt bellend vor ihr her, bei jedem Sprung streckt er sich zu seiner vollen Länge. Als Marie an einem der Winkelhäuser um die Ecke biegt, rennt sie mitten in die Arme von Tomas.
Er fällt um wie ein Baum. Baldur springt um ihn herum und leckt ihm das Gesicht, während Tomas versucht, ihn abzuwehren. Marie hat sich nur mit Mühe auf den Beinen halten können, ihr einer Arm tut ziemlich weh.
»Was soll denn das, du Idiotin«, krächzt Tomas und rappelt sich hoch. Er schiebt Baldur weg und steht auf, wobei er Marie um einen Kopf überragt. Nachdem er sich davon überzeugt hat, dass sein Handy noch funktioniert und dass er keine Grasflecken am Hintern hat, schimpft er weiter:
»Bist du denn total durchgeknallt?«
Er boxt ihr mit der Faust gegen die Schulter, genau an die Stelle, wo es am meisten wehtut. Marie beißt die Zähne zusammen und sagt nichts. Sie spürt zwar schon die Tränen, aber sie holt tief Luft und kann sie zurückhalten.
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