Nur wenige Monate später, genauer gesagt am 22. November 1942, gastierte die deutsche Mannschaft in Bratislava zur Partie gegen die Slowakei. Bis zu diesem Tag waren allein im Jahr 1942 knapp 58.000 Juden aus der Slowakei in Vernichtungslager der Nazis deportiert worden. Von den ursprünglich 89.000 Menschen jüdischen Glaubens, die in der Slowakei lebten, überlebten noch nicht einmal 10.000 den Holocaust. 5
Vor diesem Hintergrund absolvierte Paul Janes sein 71. und gleichzeitig letztes Länderspiel. Die deutsche Mannschaft siegte mit 5:2 und holte damit den 100. Sieg ihrer Länderspielgeschichte. Die Lust zu feiern war den Spielern allerdings schon während des Spiels vergangen. Die slowakischen Zuschauer beschimpften die deutschen Spieler während der gesamten 90 Minuten. Sie hatten genug von den Deutschen, selbst wenn sie in kurzen Hosen daherkamen. Paul Janes kommentierte das Geschehen auf seine unnachahmliche Art mit den Worten: „Schön ist anders.“ 6
Für genau acht Jahre, nämlich bis zum 22. November 1950, gab es kein weiteres Fußballländerspiel mit deutscher Beteiligung mehr. Der Propagandafeldzug der deutschen Fußballer durch Europa war im November 1942 endgültig beendet. Die für 1943 bereits vereinbarten Länderspiele fanden nicht mehr statt. Am 22. November 1942 endete im Übrigen auch der Vormarsch der deutschen Wehrmacht im Osten, denn exakt an diesem Tag wurde Generalmajor Friedrich Paulus zusammen mit rund 280.000 Soldaten vollständig von sowjetischen Truppen eingekesselt. Der inzwischen zum Marineartillerieobergefreiten der Reserve beförderte Janes machte sich nach dem Länderspiel wieder auf den Weg von Bratislava zu seiner Marineflakabteilung bei Brunsbüttel. Er überlebte den Zweiten Weltkrieg unverletzt und wurde Anfang August 1945 aus englischer Gefangenschaft entlassen. Zu weiteren Länderspielen langte seine Form nicht mehr. Mit seinen 71 internationalen Einsätzen blieb er über Jahrzehnte Rekordhalter im deutschen Fußball. Erst 1970 wurde er von Uwe Seeler abgelöst. Am 11. März 2012 wäre Paul Janes 100 Jahre alt geworden.
Der Ball – Mittelpunkt seines Lebens.
KINDHEIT UND JUGEND IN KÜPPERSTEG
KINDHEIT IM „SCHAFSTALL“
Als Paul Hubert Janes am 11. März 1912 zur Welt kam, hatte er sieben ältere Geschwister. Da waren zunächst Wilhelm, genannt Willi (geboren 1897), Johann (1898), Peter (1900), Josef (1903) und Hubert (1904), die allesamt in Hitdorf geboren wurden. Es folgten der Umzug nach Küppersteg und die Kinder sechs bis acht, nämlich Heinrich (1907), Maria (1908) und Paul. Heute gehören die Gemeinden Hitdorf und Küppersteg zur Stadt Leverkusen, damals aber war die Region noch ganz durch ihre ländliche Struktur geprägt. Bei Hitdorf handelte es sich um eine kleine selbstständige Gemeinde mit rund 2.000 Einwohnern und bei Küppersteg in erster Linie um eine Bahnstation gleichen Namens. In der Umgebung waren mehr Schafe als Menschen anzutreffen.
Bereits seit Dezember 1845 gab es einen Bahnhof an der Strecke der Cöln-Mindener Eisenbahn mit der Bezeichnung Küppersteg, der nach der gleichnamigen Poststation benannt wurde. Für 22 Jahre war Küppersteg damit in der näheren Umgebung konkurrenzlos. Dennoch kam es erst im Jahre 1889 zur Bildung der Bürgermeisterei Küppersteg durch die beiden Gemeinden Wiesdorf und Bürrig. Die ersten amtierenden Bürgermeister besaßen keinen guten Ruf und galten als inkompetent. 7Erst 1906 mit dem Amtsantritt von Franz Pauly setzte eine positive Entwicklung der Gemeinde ein. 1930 verschmolz Küppersteg mit Hitdorf und weiteren Gemeinden zur Stadt Leverkusen.
Schon Paul Janes’ Großeltern kamen aus dieser Gegend. Die Eltern seines Vaters Anton, Wilhelm und Anna Katharina Janes, wurden 1843 in Hitdorf (Wilhelm) bzw. 1833 in Worringen (Anna Katharina) geboren; Worringen gehört seit 1922 zu Köln. Seine Großeltern mütterlicherseits, Peter und Elisabeth Greis, stammten beide aus Hitdorf, wo sie im Jahre 1834 auf die Welt kamen. Alle vier waren römisch-katholischen Glaubens, und die beiden Großväter verdienten ihr Geld jeweils als Tagelöhner. Sie wiesen damit eine für die Gegend typische Biografie und Religionszugehörigkeit aus. Der Rheinhafen in Hitdorf als hauptsächliche Beschäftigungsmöglichkeit konnte für keine dauerhaft bezahlte Arbeit sorgen, so dass sich viele Männer als Tagelöhner, z.B. in der Produktion von Zündhölzchen, verdingten. Nicht selten arbeiteten die Familienangehörigen mit, damit der Lebensunterhalt gesichert werden konnte. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts erlebten Küppersteg und Umgebung einen kleinen wirtschaftlichen Aufstieg: Es entstanden etliche Ziegeleien und Produktionsstätten für Schwefel- und Salpetersäure. Außerdem entwickelte sich eine fabrikmäßige Zündholzproduktion, und es entstand auf der Bürriger Heide die „Rheinische Dynamitfabrik Opladen“. Die Fabrikarbeit war oft gefährlich, aber auch verhältnismäßig gut bezahlt. Im Jahre 1891 wurde in Wiesdorf die spätere Bayer AG gegründet.
Auch Janes’ Eltern wurden in Hitdorf geboren, Anton im Jahre 1871 und Katharina zwei Jahre später, und waren ebenfalls katholisch. Sie heirateten am 2. Mai 1896. Anton Janes war Fabrikarbeiter und versorgte so die wachsende Familie. Zwischen September 1904 und Mai 1907 wagte die in Hitdorf ansässige Familie mit ihrem Umzug in den Nachbarort Küppersteg den Schritt in eine neue Zukunft. Dabei hatte Küppersteg nach wie vor wenig mehr zu bieten als einen regional wichtigen Personen- und Güterbahnhof. Bis zum späteren Bayerwerk in Wiesdorf betrug die Entfernung rund fünf Kilometer, eine Distanz, die selbst in jenen Jahren recht gut zurückzulegen war. Am 1. Dezember 1900 wies die Gemeinde Bürrig, zu der Küppersteg gehörte, eine Einwohnerzahl von 2.337 aus. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte in der Umgebung des Küppersteger Bahnhofs eine rege Bautätigkeit ein, und es kam zur Erweiterung der Siedlung „Schafstall“ nebst Errichtung einer Schule. Hier, auf dem ehemaligen Grund und Boden eines Schäfers, fand die Familie Janes in einem kleinen zweistöckigen Haus mit der Adresse Bahnhofstraße 36 (seit 1975 Küppersteger Straße) ihr neues Domizil. Heute erinnert noch die Straße „Am alten Schafstall“ in Leverkusen-Küppersteg an die alte Arbeitersiedlung.
Paul Janes wurde also im März 1912 in bescheidene, aber anscheinend stabile ländliche und sehr sportbegeisterte Verhältnisse geboren, denn alle Brüder spielten Fußball. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges verbesserte sich kurzfristig die allgemeine Situation in den Gemeinden rund um den Bahnhof Küppersteg. Die Arbeitslosigkeit war gering, und der harte „Steckrübenwinter“ 1916/17 konnte vergleichsweise gut überstanden werden. Doch gegen Ende des Krieges kam es auch rund um Küppersteg zu erheblichen Versorgungsengpässen, Unterernährung und Todesfällen. Die nach Kriegsende gebildeten Arbeiter- und Soldatenräte verbreiteten wenig revolutionären Elan, und es blieb in Küppersteg und Umgebung verhältnismäßig ruhig. Auch die sich kurz darauf anschließende Besatzung durch alliierte Soldaten (zunächst überwiegend Schotten und Neuseeländer, später Engländer) verlief ohne großes Aufsehen. Vereinzelte Probleme gab es im Laufe der Besatzungszeit, wenn die Alliierten Wohnungen für ihre Offiziere requirierten. Negativ für die lokale Wirtschaft wirkten sich in der Nachkriegszeit Handelsbeschränkungen, die Kappung wichtiger ökonomischer Verbindungen mit den linksrheinischen Gebieten und Wiedergutmachungsbestimmungen aus.
ERSTE SPORTLICHE ERFOLGE UND EIN MÄSSIGER SCHULABSCHLUSS
Vor diesem Hintergrund begann im Jahre 1918 Paul Janes’ Schulzeit an der „Katholischen Schule zu Küppersteg“ an der Düsseldorfer Straße (die heute in diesem Bereich Hardenbergstraße heißt). Die Rahmenbedingungen, unter denen der junge Paul aufwuchs, spielten keine nennenswerte Rolle in der von Janes verfassten Autobiografie, so dass über sein Leben in jener Zeit kaum etwas bekannt ist. Laut eigener Aussage bestand damals das größte Problem seiner Eltern darin, die von allen Jungen benötigte Sportkleidung und vor allem Sportschuhe zu beschaffen. Das klappte schon aus ökonomischen Gründen nicht immer, so dass der spätere Rekordnationalspieler Janes wie so viele Fußballer seiner Generation „die ersten ‚Gehversuche‘ als Fußballer (…) nicht in richtigen Fußballschuhen“ unternehmen konnte. Es mussten ersatzweise „Holzpantinen oder Zellstoffschuhe her“, oder es wurde zum Leidwesen seiner Mutter gleich in Straßenschuhen gekickt. Weil sich die Familie für Fußball begeisterte, was in jenen Jahren eher ungewöhnlich war, wurde er frühzeitig beim Sportverein Jahn Küppersteg in der Schülermannschaft angemeldet. In dem 1914 gegründeten Verein (er fusionierte 1950 mit dem TuS Manfort 1904 zum VfL Leverkusen) kickten seine Brüder, und Willi Janes gehörte zu den Gründungsmitgliedern und ersten Fußballern des Vereins. Er war es auch, der seinem jüngsten Bruder zu Weihnachten ein paar Fußballschuhe schenkte und Paul nach eigener Aussage somit zum glücklichsten Jungen der Welt machte.
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