Kit atmete den Duft der Leberpastete ein. Es war der Duft von Weihnachten. Der Duft von Familie.
Sie ließ sich auf der Küchenbank nieder und schenkte sich aus der Thermoskanne einen Morgenkaffee ein. Sie beobachtete ihre Mutter. Hellhäutig, groß und nordisch, in einer Schürze, die eine schöne Taille sichtbar machte. Sie war ihr Stolz, mehr noch als ihre Größe und die Grübchen. Mehr als das mädchenhaft lange Haar. Die Taille, die es mit jeder Taille in einem Brigitte-Bardot-Film hätte aufnehmen können. Karen-Lis hatte das Aussehen ihrer Mutter geerbt, doch ohne die Zartheit ihres Gesichts, dachte Kit, während sie ein Brötchen mit Butter bestrich. Sie wusste, dass ihre Mutter nur ihr zuliebe gelächelt hatte und auf die Bemerkung eingegangen war. Sie konnte es an der Stimme hören und an ihrer Haltung sehen. Ihre Mutter, die sonst immer gut gelaunt und frohen Sinnes war. Sie hatte die Traurigkeit nicht verdient, die in ihren Blick gekrochen war und die Kits Wut wieder unkontrolliert hochkommen ließ.
»Das kann sie doch nicht machen.«
Sie sah die Schultern ihrer Mutter, die sich verkrampften, als wäre die Kritik gegen sie gerichtet.
»Dieses eine Mal im Jahr«, fuhr Kit fort. »Ich könnte es ja verstehen, wenn sie Mann und Kinder und kein Geld hätte. Aber sie ist ungebunden. Sie verdient gut. Und dann hat sie keine Zeit, an Weihnachten ihre Familie zu besuchen?«
Ihre Mutter antwortete nicht. Was sollte sie auch sagen? Dass sie enttäuscht war; dass sie alle drei enttäuscht waren, brauchte nicht erwähnt zu werden. Dass Karen-Lis einen triftigen Grund hatte in Afrika zu bleiben. Bullshit! Sie hatte nur eine bequeme Entschuldigung.
Kit hörte die Schritte ihres Vaters an der Tür. »Was ist denn hier los? Jetzt kommen wir aber in Weihnachtsstimmung.« Er steuerte direkt auf die fertige Leberpastete zu, stieß eine daneben liegende Gabel hinein und kostete. »Nicht zu übertreffen«, lautete sein Urteil.
Es war fast nicht auszuhalten. Diese ganze gekünstelte gute Laune. Warum konnten sie es nicht einfach zugeben? Warum sagte es niemand laut? Dass sie Karen-Lis gleichgültig waren. Dass ihr nichts mehr an ihnen lag. Dass sie in ihrer Welt voll spannender exotischer Existenzen keinen Platz mehr hatten. In einem Anfall von Güte wollte sie Weihnachten in einem Kinderheim für AIDS-kranke Kinder in Simbabwe feiern, was natürlich edel war. Dagegen konnte man schließlich nichts sagen, und bestimmt hatte sie sich gerade deshalb dafür entschieden. Weil sie wusste, dass jegliche Kritik höchst unpassend, typisch verzogen und sich auf westliche Art selbst bemitleidend klingen würde. Kit konnte nur schlecht glauben, dass Karen-Lis etwas Wohltätiges tat, nur um es zu tun. Dafür kannte sie ihre Schwester zu gut.
Jetzt standen sie am Fenster, alle beide. Ihre Eltern. Dicht beieinander und trotzdem mit dieser verdammten Distanz, die man nahezu fassen konnte. Alle Frustrationen schienen sich zwischen sie gedrängt und sie einander entfremdet zu haben.
»Was ist mit dem Weihnachtsbaum?«, fragte sie verzweifelt und bereute ihre harten Worte von eben. »Wir werden doch trotzdem einen haben?«
»Wir fahren morgen Vormittag nach Holkenhavn hinaus«, teilte ihr Vater mit. »Du und ich, mit dem Trailer.«
»Können wir ihn dieses Jahr nicht für uns schlagen lassen?«
Es gelang ihm, verletzt auszusehen. »Dann ist es doch kein richtiges Weihnachten, nicht?«
Das würde es auch so nicht sein, doch diesmal sagte sie nichts. Nur sie drei. Keine Großmutter und keine Karen-Lis. Kein Henrik wie im letzten Jahr. Drei Menschen, die sich jeder für sich nach etwas Ganzem sehnten. Das einzige Ganze, das sie hatten, war eine Gans, die zu groß für sie war.
»Okay, dann schlagen wir einen«, sagte sie.
Während sie eine Weile um den Tisch herum saßen und sich unterhielten, gingen ihre Gedanken wie so oft in der letzten Zeit auf Wanderschaft. Sie wünschte, dass sie sie anhalten könnte. Die Erinnerung an Henrik blockieren könnte, an seine Nähe. Aber ihr Körper schien ein von ihr unabhängiger Teil geworden zu sein. Er rottete sich mit dem kleinen Teil des Gehirns zusammen, den sie nicht kontrollieren konnte, und beschwor ihn in Szenen aus den fünf Jahren herauf, die sie zusammen gewesen waren.
Fünf Jahre. Das klang nach einer langen Zeit, aber sie waren nie so weit gekommen, dass es angefangen hatte, sich so anzufühlen. Vielleicht war es ihr deshalb immer noch ein Rätsel, warum sie plötzlich an einem Punkt gelandet waren, an dem es kein Zurück mehr gegeben hatte. Aber wahrscheinlich sah nur sie das so. Für Henrik war es bestimmt anders. Für Henrik war es überlegter, denn Henrik tat selten etwas Unüberlegtes und etwas, das er nicht durchdacht hatte.
Bei dem Gedanken, dass er den Bruch mit seiner üblichen Gründlichkeit und Ehrlichkeit durchdacht hatte, fröstelte sie. Henrik, dem sie doch immer die Rolle dessen zugeteilt hatte, der ihrem Leben eine tiefere Bedeutung geben sollte. Henrik, den sie vom ersten Augenblick an zu ihrer eigenen großen Verwunderung wie einen Magneten erlebt hatte; der erste Mann, der sie irgendwie dazu hatte bringen können, alles andere zu vergessen. Selbst die Familie. Hätte er ihr nur etwas mehr Zeit gelassen. Hätte er nur etwas mehr Geduld gehabt, dann wäre es ihr vielleicht möglich gewesen, sich gemeinsam mit ihm in ein ganz neues Leben aufzumachen. Doch er hatte alles, was sie in ihrem Gepäck hatte, ignoriert. Inklusive des Traums und der Angst.
Ihre Mutter stellte Tee und selbst gebackene Kekse auf den Tisch. Pfeffernüsse, Lebkuchen und Spekulatius. Sie trank aus ihrer Tasse, während ihre Eltern freundlich diskutierten, was sie im Frühjahr mit Großmutters Garten machen sollten. Der Klang ihrer Stimmen war wie eine vertraute und sichere Tapete, ein unveränderbarer Hintergrund in ihrem Dasein. Kit verspürte den Drang, in den Kokon der Familie zu kriechen und sich zu verstecken; Zuflucht zu suchen vor einer Welt, die sie nicht ganz verstand.
Henrik hatte sich von ihr befreit. Das war es doch, worauf die ganze Übung, sich voneinander zu trennen, hinauslief, das wusste sie sehr wohl. Die Freiheit, er selbst zu sein und einen Partner zu finden, der ihn vielleicht nicht ganz so sehr brauchte. Ihn nicht auf die gleiche Weise auslaugte.
Wie immer schwankte sie zwischen Akzeptanz und Wut. Sie war nicht wie andere Mädchen, und das wusste er genau. Man war so, wie man war, davon war sie nun einmal überzeugt, und man konnte sich nicht einfach umformen, um zu passen. Sie war eine Einzelgängerin. Eine, die sich an einen oder zwei Menschen band. Sie hatte nie viele Freundinnen gehabt. Wenn sie angestrengt nachdachte, kam sie auf drei oder vier, die ihr etwas bedeutet hatten. Zwei wohnten jetzt in Aarhus und sie sah sie selten. Eine Schulfreundin aus der Grundschulzeit, Bibbie, wohnte mit Sicherheit in Nyborg, aber der Kontakt war längst eingeschlafen.
Sie hing sehr an ihrer Familie, und darüber hinaus war sie das, was sie als Einmannfrau bezeichnete. Aber sie wünschte, dass es anders wäre. Dann wäre der Verlust vielleicht nicht so groß, wenn er eintrat.
Und er war eingetreten. Weil sie sich gedrängt gefühlt hatte, etwas zu sein, das sie nicht war. Jedenfalls noch nicht.
Es schellte an der Tür.
»Das ist bestimmt die Post«, sagte ihr Vater und ging hinaus. »Die letzten Weihnachtsgrüße«, murmelte er, bevor er die Tür hinter sich schloss.
Kit blieb in der Küche und half ihrer Mutter, den Tisch abzuräumen. Sie hörten Stimmen aus dem Gang. Sie wusste, dass ihr Vater zu Weihnachten immer ein Glas Portwein und Plätzchen anbot. Der Postbote begnügte sich bestimmt mit Plätzchen, während ihr Vater einen Portwein trank.
Wieder dachte sie an Henrik. Fragte sich, was sie eigentlich miteinander geteilt hatten, da es ihr so verdammt schwer fiel, ohne ihn auszukommen. Es hatte andere Männer in ihrem Leben gegeben, aber es brachte nichts, Vergleiche anzustellen. Vielleicht weil Henrik anders und mehr als ein Freund war. Sie waren wie zwei Puzzleteile gewesen. Das Gefühl, zusammenzugehören. Zum Schluss natürlich nicht mehr, korrigierte sie sich. Zum Schluss war da der Schatten, der in ihr Leben gekommen war und plötzlich immer größer wurde. Auch größer als die Liebe, obwohl sie das nicht für möglich gehalten hatte.
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