Die Werke der bildenden Kunst, die der Dichter aus eigener Anschauung kannte, sind auch für die damalige Zeit an Zahl nicht eben groß. Von den bedeutenden Galerien seiner Zeit hat er Kassel und Dresden gesehen, hat die von Anton Ulrich von Braunschweig angelegten Sammlungen in dem Lustschloß Salzdahlum bei Hannover kennengelernt, die hauptsächlich Niederländer und späte Italiener enthielten, und am häufigsten besuchte er von Erlangen aus die im 18. Jahrhundert sehr angesehene Gemäldegalerie auf Schloß Weißenstein bei Pommersfelden im Fränkischen, in der ebenfalls Niederländer, italienische Spätrenaissance und Barock am stärksten vertreten waren. Von alledem wird in Briefen und Selbstzeugnissen nur Pommersfelden ausführlicher erwähnt, und wir wissen nicht, welche Wirkung etwa Dresden auf ihn ausübte, wo fast gleichzeitig mit Wackenroders Buch das Gemälde-Gespräch des Schlegel-Kreises entstand; So kannte er die Präraffaeliten und auch die deutsche Kunst vor Dürer so gut wie gar nicht, und auch seine beiden Lieblinge doch nur ungenau, zumal die Pommersfeldener Madonna, die ihn so entzückte, heute nicht mehr als Raffaels Werk gilt.
Diese geringen Kenntnisse sind vielleicht nicht nur auf den Mangel an Anschauungsmöglichkeiten zurückzuführen. Wackenroder ist überhaupt seinem Wesen nach kein Augenmensch, zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt wie Goethe oder Wilhelm Heinse oder auch nur wie Winckelmann. Er ist kein visueller Typ: stilistische oder formale Beobachtungen suchen wir in seinen Bildbetrachtungen vergebens, und zu der Entwicklung dieser Seite der werdenden Kunstwissenschaft konnte er nichts beitragen. Ihm kommt es, wie den meisten Romantikern, nicht auf Komposition und Stil, sondern ausschließlich auf Gehalt und Idee des Bildes an, ja, sein Kunsturteil ist zum guten Teil durch außerästhetische Faktoren bestimmt. Die christliche Gesinnung, die ein Gemälde in sich trägt und ausstrahlt, ist ihm oft wichtiger als sein rein künstlerischer Wert, die sittliche Wirkung bedeutsamer als die ästhetische. Das ist eine grundsätzliche Gefahr aller dilettantischen Kunstbetrachtung, die eben damals August Wilhelm Schlegel an den kunstkritischen Schriften des Klassizisten Georg Forster scharfsichtig bemerkt hatte.
So kommt es, daß in den „Herzensergießungen“ und auch in den „Phantasien“ kaum je ein Bild wirklich beschrieben wird, und wo es ja einmal geschieht wie in der ausführlichen Schilderung der Pommersfelder Muttergottes in den Reisetagebüchern, da ist alle Angabe des sinnlichen Details der Herausarbeitung der Idee untergeordnet. Wichtiger fast als alle unmittelbare Anschauung ist für ihn die Anregung, die er aus Lehre und Büchern geschöpft hat, in Studien bei dem Göttinger Kunsthistoriker Johann David Fiorillo und aus den alten Quellenwerken zur Geschichte der Künste, die wir oben erwähnten.
Man darf also sagen, daß diese vielleicht bedeutsamste und folgenreichste Leistung frühromantischer Kunstbetrachtung weit mehr von der Idee als von der Erfahrung bestimmt war. Wackenroders Bild vom goldenen Zeitalter der altitalienischen und altdeutschen Malerei ist so wenig real — wir haben es oben angedeutet — wie Winckelmanns Griechentraum, mehr sehnsüchtiges Wunschbild als wirklichkeitsgesättigte Schilderung aus der Fülle der Anschauung.
Der Verzicht auf Beschreibung von Bildinhalt und technischen Einzelheiten ist nach alledem folgerichtig und fast selbstverständlich. „Ein schönes Bild oder Gemälde ist meinem Sinne nach eigentlich gar nicht zu beschreiben“, sagt der Klosterbruder, „denn in dem Augenblicke, da man mehr als ein einziges Wort darüber sagt, fliegt die Einbildung von der Tafel weg und gaukelt für sich allein in den Lüften. Drum haben die alten Chronikenschreiber der Kunst mich sehr weise gedünkt, wenn sie ein Gemälde bloß ein vortreffliches, ein unvergleichliches, ein über alles herrliches nennen; indem es mir unmöglich scheint, mehr davon zu sagen.“
Auch das ist eine Neuentdeckung nicht nur Wackenroders, sondern der ganzen Frühromantik und ihres unmittelbaren Vorgängers Karl Philipp Moritz. Es ist grundsätzlich unmöglich, das Wesentliche eines Werkes der bildenden Kunst in prosaischer Beschreibung wiederzugeben. Beschreiben läßt sich wohl die äußere Schale: Gegenstand, Inhalt und Behandlungsweise; aber der Kern, die Seele einer solchen lebendigen Einheit ist so nicht zu erfassen.
Eines der tiefsten Probleme der deutschen Romantik, ja des menschlichen Seins überhaupt, ist damit berührt: wie ist Mitteilung, Übermittlung, Übersetzung möglich? Diese Frage der Übersetzbarkeit in jedem Sinne: des Gedankens in das Wort und der Mitteilung des Gedankens oder Gefühls von Mensch zu Mensch, der Übersetzung von einer Sprache in die andere, von einer Kunst in die andere — sie ist den Romantikern zum erstenmal brennend und im eigentlichen Sinne frag-würdig geworden. In diesem geistesgeschichtlichen Zusammenhang steht das Problem der Beschreibung von Kunstwerken und der romantische Verzicht auf die Nacherzählung im prosaischen Wort. Ein Kunstwerk kann nur durch ein Kunstwerk wiedergegeben werden. Der in sich geschlossene Organismus eines Gemäldes, einer Statue, eines Gebäudes, ist nur „übersetzbar“ durch ein adäquates Gebilde der Wortkunst, durch den gleichgesetzlichen Organismus einer Dichtung, durch das kleinste und geschlossenste Sprachkunstwerk, durch das lyrische Gedicht. Von der prosaischen Gemäldebeschreibung des 18. Jahrhunderts — selbst Winckelmanns gehämmerte Plastikschilderungen werden ihr verdächtig — geht die Frühromantik zum Gemäldegedicht über, So ist es bei Wackenroder selbst, so bei A. W. Schlegel und der Unzahl späterer Nachfolger. Nicht zufällig wird das strengste und zuchtvollste lyrische Gebilde überhaupt, das Sonett, zur Lieblingsform dieser Art von Kunstdeutung. Die prosaische Beschreibung ist damit in den Kunstschriften der Romantik nicht zu Ende, aber doch in ihrer grundsätzlichen Bedeutung eingeschränkt.
Auch Wackenroder verzweifelt beim Anblick der Madonna zu Pommersfelden daran, die Fülle seines heißen Herzens in Worten auszudrücken: „zerreiße meine Worte, wer das Götterbild sehen kann, und zerschmelze in Wonne, wer es sieht.“ Die Gemäldegedichte der „Herzensergießungen“ verzichten auf alle dingliche Beschreibung und drücken nur in monologischer Rede, ähnlich den Spruchbändern der alten Gemälde, Seelenzustand und Gefühle der dargestellten Personen aus. Maria und das Jesuskind, der kleine Johannes und die Weisen aus dem Morgenlande sprechen in einfältiger Ergriffenheit von den Wundern ihres Herzens.
In diesem durch Anlage und Kunstwillen, Zeitgebundenheit und Lebensenge begrenzten geschichtlichen Raum bewegen sich Wackenroders Schriften. Es ist leicht, ihm nachzurechnen, was alles er nicht sah. Einseitigkeit und Teilblindheit ist ein fast notwendiges Merkmal des Genies, und oft erwachsen aus der Beschränkung die tiefsten Erkenntnisse und die stärksten Anregungen.
Daß er, im Gegensatz zur deutschen Klassik, kein Organ für die Plastik besaß, teilt er mit der ganzen Romantik. Er hat auch mit Ausnahme des einen, ganz undinglichen Aufsatzes über die nie erblickte Peterskirche in Rom keine Architektur beschrieben. Wenn die seit Goethes Erwin-Lobrede und Wilhelm Heinses Schilderungen lebendige, in der Romantik gipfelnde Gotik-Begeisterung in seinen Schriften keinen sichtbaren Ausdruck findet, so liegt das zum Teil darin begründet, daß er die großen deutschen Dome und erst recht die französischen Kathedralen nie gesehen hat und also nirgends aus lebendigem Eindruck schöpfen konnte. Vielleicht auch, daß ihm auf dem Gebiet der Baukunst Vorbildung und Anstoß von außen mehr als sonst fehlten. Die Berührung mit dem wenig älteren und ebenfalls ganz jung gestorbenen Architekten Friedrich Gilly, dem Entdecker der Marienburg, in dessen Werk sich wie bei seinem Schüler Schinkel klassische und romantische Elemente mischen und den Wackenroder mit hoher Begeisterung nennt, war wohl doch zu flüchtig, um nachhaltig zu wirken.
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