Arthur Achleitner
Bergrichters Erdenwallen
Hochlandsroman
In großer Erregung umstehen Bauersleute, Knechte und Mägde das Gehöft des Servaz Amareller, Bauers im Hemmernmoos, und besprechen den unerhörten Fall eines großen Gelddiebstahles. Nach den im Jammerton immer wieder vorgebrachten Beteuerungen des dürren, kleinen Amarellers ist eine Brieftasche mit über fünfhundert Gulden, dem Betrag für verkauftes Vieh, aus einer gut versperrt gewesenen Truhe gestohlen, ganz rätselhaft entwendet worden. Gestern noch überzeugte sich Servaz Amareller durch Abzählen der Noten von dem Vorhandensein des Geldbetrages worauf die Truhe wieder sorglich verschlossen und der Schlüssel im Ofenloch versteckt wurde. Heute ist das Geld verschwunden, wiewohl niemand Fremdes im Hause gesehen und der Schlüssel im Aschenversteck vorgefunden wurde. Die Nachbarn, von der überraschenden Neuigkeit verständigt, stimmen dem jammernden Bestohlenen zu, daß nur eines von den Hausleuten selbst den Diebstahl habe vollführen können, weil sich weder an der Hausthüre noch an den mit Eisenstäben vergitterten Fenstern Spuren eines gewaltsamen Eindringens vorfinden lassen. Schon zweimal haben die Bauern die Front sowie die Seiten des Gehöftes in Bezug auf Anzeichen eines Einbruches von Außen untersucht, es ist nicht das Geringste zu entdecken. Das Geld ist aber fort, die Truhe aufgesprengt. Amarellers Jüngster mußte sogleich nach der Entdeckung des Diebstahles hinaus zur Gendarmerie zur Anzeige, und jeden Augenblick steht die Ankunft eines Gendarmen zu erwarten.
Die Bauern erörtern in lebhafter Weise die Frage, wer solcher, in Tirol unerhörter Frevelthat genügend verdächtig sein könnte. Die Inwohner sind durchaus ehrliche Leute, wenigstens bis gestern seit Jahren gewesen; ohne äußere Anzeichen eines Eindringens kann es nicht anders sein, als daß einer der Dienstboten schuldig des Diebstahls ist. Aber wer?
Einer der Nachbarn warf die Frage auf, ob denn der Hund des Amareller gar nichts gemeldet habe. Der dürre Servaz beteuerte: „Sell ischt frei aus der Weis'! No nia hat si' a Dörcher zurwig'wagg und grad heunt Nacht muß selle Frevelthat passiren! Ich versteh' 's nuit, wie sall öpper hat zuageahn können! Suscht so a scharfer Hund, und grad heunt Nacht laßt er aus, der Saggrasultan! I kann's selm nuit verstiahn!“
Die andern verstehen den Fall, daß der als scharf und bissig bekannte Hofhund einen Dieb eingelassen haben soll, auch nicht.
Der Falgerbauer folgerte daraus, daß der Dieb entweder eine Wurst für den Sultan mitgebracht oder sich in Abwesenheit des Hundes eingeschlichen haben mußte.
Wohl an zwei Stunden sprachen die Leute über den rätselhaften Diebstahl und tranken dabei von Amarellers bereitwillig kredenztem Röthel, weil so ein erregter Diskurs soviel Durst erzeugt.
Als aber die Gestalt des heranrückenden Gendarmen sichtbar wurde, schickte man Flasche und Gläser sogleich ins Haus zurück, wobei Amareller sagte, es schicke sich nicht, vor der Obrigkeit Wein zu trinken, besonders nicht, wenn einem über fünfhundert Gulden Bargeld gestohlen worden sind. Könnte das Steueramt erfahren, daß einer trotz des Diebstahles noch Wein im Keller habe, wie leicht könnte es sein, daß das Steueramt einen dafür höher einschätzt in der Steuer.
Der Falger stimmte zu. „Ischt wohr oh und a Gendarm braucht kan Röthel!“
Kurz fiel die Begrüßung des Sicherheitsmannes aus, der nun nach Vorschrift und Pflicht den Thatbestand aufnahm und sich vom Amareller den Fall erzählen ließ. Das verschlang eine weitere Stunde, es ging auf Essenszeit und gar lieblich dufteten die Schmalznudeln aus dem Hause. Solcher Mahnung wollten die Nachbarn nun folgen und sich nach Hause begeben, allein der Gendarm erklärte, daß der Herr Bezirksrichter als Untersuchungsrichter jeden Augenblick mit der Kommission eintreffen könne, daher die Leute schon dableiben müßten.
Jetzt wollte aber keiner der Bauern, die bisher nicht genug über den rätselhaften Diebstahl schwätzen konnten, mehr bleiben, und unverhohlen sagten sie, mit dem Gericht wollen sie nichts zu thun haben. Nun befahl aber der Gendarm das Verbleiben bis zur Ankunft des Richters, und die Bauern blieben vor dem Hemmernmooshof, jetzt still und verschlossen.
Bald darauf kam der Richter mit dem Protokollführer angefahren, stumm gegrüßt von den nun zaghaften, scheu gewordenen Bauern. Nach dem Rapport des Gendarmen ging der Richter, eine hohe Gestalt mit merkwürdig scharfen, durchbohrenden Augen und einer hohen Stirne, zum Amtsgeschäft über, indem er den Amareller als Bestohlenen einem Verhör unterzog. Servaz hatte noch keine zehn Sätze gesprochen, da unterbrach ihn der Richter mit der Frage: „Ischt der Hofhund männlichen Geschlechts?“
Überrascht stammelte Amareller. „Wird wohl decht so sein!“
Laut, allen Anwesenden vernehmlich sprach der Richter: „Das ischt eben die alte und ewig dumme Geschichte. Ihr Bauern haltet immer männliche Hunde, Dörcher und fahrendes Volk immer Weibchen. Und da wundert ihr Bauern euch dann, und könnt nicht begreifen, daß eure Hofhunde fremde Leute lautlos einlassen! Geschieht euch ganz recht! Also der Hofhund hat nicht gemeldet, gut. Habt ihr irgend ein Anzeichen an den Außenseiten gefunden?“
Servaz verneinte diese Frage und verwies auf die völlig intakt gebliebenen Fenstergitter.
Langsam ging der Richter von Fenster zu Fenster des Erdgeschosses und zog einen zusammenlegbaren Maßstab aus der Tasche, mit welchem er die Sprossenentfernung im Gitter maß.
Staunend sagte Amareller. „Mit Verlaub, Herr Richter, durch selle Gitter wird decht keiner durchschlupfen können!“
„Du schweigst, bis du wieder gefragt wirst!“ erwiderte der Richter, namens Ehrenstraßer und prüfte dann die Vergitterung auf etwaige Konstruktionsfehler, worauf der Befehl erfolgte, es sollen sich alle Anwesenden in den Flur des Hauses begeben. Nun widmete der Richter seine ganze Aufmerksamkeit dem Boden rings um das Gehöfte, und suchte nach Spuren und Fußabdrücken. Um das Haus ist der Boden kiesig, fest, nichts zu finden. Doch schon in geringer Entfernung wird der Boden, entsprechend dem bezeichnenden Gehöftnamen (Hemmern = Nißwurz, moos-sumpfiger Grund) weich, und der Richter hatte nicht lange zu suchen, da stieß er auch schon auf Abdrücke von Schuhen im moosigen Boden, eine Fährte von überraschenden Eigenschaften. Einmal finden sich die Abdrücke stark nach auswärts gerichtet, wodurch der Richter kombinierte, daß der Erzeuger dieser Fährte Plattfüße habe. Die nächste Prüfung der Fährte warf aber die Vermutung, daß sie vom Diebe herrühren könnte, über den Haufen, denn die Fährte geht gemäß den Abdrücken im weichen Boden auf das Haus zu, nicht von demselben weg.
Der Richter wurde von diesem Faktum einigermaßen überrascht und ging der Fährte entgegen, weiter in den Moorboden hinein, bis sie sich auf den zur Sicherung der Passanten gelegten Pfadbrettern verlor.
Ist diese Fährte nun die zum Hause führende, so muß jene, welche vom Hause wegzieht, gefunden werden. Mit der größten Sorgfalt und Gründlichkeit suchte der Richter nach der Weggangsspur, er mühte sich ab, und verwendete alle seine Amtserfahrung für diese Suche, doch vermochte er nicht einen vom Hause führenden Fußabdruck zu finden. So kehrte Ehrenstraßer denn zur zuführenden Spur zurück, und hob mehrere Abdrücke mit charakteristischen Nägeleindrücken aus dem Boden aus, um sie mit größter Sorgfalt zwischen mitgeführten Pappendeckeln zu verwahren, und eingebunden der Feldtasche einzuverleiben, die der Untersuchungsrichter ähnlich wie die Offiziere solche umgehängt tragen, an der linken Hüftenseite trägt.
Nun wurde der Protokollführer gerufen und demselben alles Einschlägige über die gemachten Wahrnehmungen diktiert. Zur größten Verwunderung der Bauern ließ sie der Richter nun einzeln vor das Haus treten, wobei Ehrenstraßer scharf auf die Formation der Füße achtete. Nicht einer von den Leuten, auch nicht vom Gesinde, hat Plattfüße.
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