Vielbeschäftigt und öffentlichkeitsscheu. Das passte in dieses Viertel. Die Französische Konzession hatte schon immer als ideales Terrain für zwielichtige Figuren gegolten. Als sie vor zwei Jahren wieder nach Shanghai gekommen war, zurück in die chinesische Heimat ihrer Eltern, hatte sie ein kleines Appartement in der 14. Etage eines Wohnblocks weit außerhalb mit Kakerlaken teilen müssen und dafür eine fast ebenso hohe Miete gezahlt. Cathy hatte sich mit Jeremys dünnen Ausflüchten abspeisen lassen und sich vorgenommen, keine weiteren Fragen zu stellen.
Mit dem »Besser-keine-Fragen-Stellen« hatte sie bereits hinreichend Erfahrungen gesammelt. Cathy Wong war amerikanische Staatsbürgerin; die Wongs hatten sich im Jahre 1938, nach einer dramatischen Flucht aus dem von den Japanern besetzten Nanking, schließlich in Los Angeles niedergelassen. Nicht allen Mitgliedern der weitverzweigten Familie war es gelungen, den Kriegsgräueln zu entkommen. Solange sich Cathy zurückerinnern konnte, war das Thema Nanking innerhalb der Familie tabu gewesen. Über die Massaker an der Zivilbevölkerung, die Massenvergewaltigungen und sonstigen Grausamkeiten wurde konsequent geschwiegen. So hielten es die Wongs seit 75 Jahren. Was Cathy über den Japanisch-Chinesischen Krieg wusste, hatte sie sich in der Universitätsbibliothek und im Internet angelesen. Aber über dieses Wissen konnte sie sich mit ihrer Familie nicht austauschen. Sie hatte niemals Fragen stellen dürfen. So hatte sie auch ihre gesamte Jugend hindurch klaglos akzeptiert, dass ihr Vater ihr strengstens verboten hatte, japanische Produkte zu kaufen. Nicht einmal einen harmlosen Walkman hatte er ihr gegönnt.
Cathy war zweisprachig und behütet aufgewachsen. In Kalifornien hatte sie sich immer wohlgefühlt. Ihr Vater, der bereits seit Mitte der fünfziger Jahre die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß, betrieb eine kleine Take-away-Kette im Großraum Los Angeles, die aus dem Chinarestaurant seiner Eltern hervorgegangen war. Er war das mit Abstand erfolgreichste Mitglied des Wong-Clans und vergaß nie, sich um die anderen Familienmitglieder zu kümmern. Für Cathys »kleinen Cousin« Chen zum Beispiel, einen hochintelligenten, aber psychisch labilen Jungen, dessen Vater viel zu früh verstorben war, hatte er gesorgt wie für einen eigenen Sohn. Er hatte ihm die komplette Ausbildung bezahlt und finanzierte ihm jetzt sogar noch ein Zweitstudium an der renommierten Fudan University, hier in Shanghai. Chen studierte Chinesische Geschichte, denn Restaurantchefs, so meinte Cathys Vater, wenn einmal die Rede auf ihren verschrobenen Cousin kam, hätten die Wongs bereits genug in ihren Reihen. Auch wenn sie Chen, der in einem Studentenwohnheim der Universität hauste, für einen kommunikationsgestörten Nerd hielt, mit dem sie herzlich wenig anfangen konnte, hatte es sich nicht vermeiden lassen, ihn zu ihrer Party einzuladen. Familienbande sind eben Familienbande.
Während Chen letztlich mehr ein Sorgenkind war, konnte sich Cathys bisheriger Lebenslauf wahrlich sehen lassen. Makellose Schulzeugnisse hatten ihr zunächst ein Stipendium an der New Yorker School of Journalism ermöglicht, wo sie als eine der Besten ihres Jahrgangs abgeschlossen hatte. Danach war sie zum ersten Mal wieder in die alte Heimat ihrer Eltern zurückgekehrt, um in Shanghai Chinesische Literatur zu studieren – ebenfalls an der Fudan-Universität. Obwohl sie nebenher noch einen eigenen Internetblog unterhielt und als freie Rechercheurin für westliche Medien arbeitete, absolvierte sie ihr Studium zwei Semester unter der Regelstudienzeit. Nach ihrer Rückkehr in die Staaten hatte Cathy ein Angebot der Los Angeles Times vorgefunden und sich voller Enthusiasmus ins Reporterleben gestürzt. Mit ihrem umfangreichen Hintergrundwissen, ihrer freundlich-bestimmten Hartnäckigkeit und ihrem blendenden Aussehen hatte sie einige aufsehenerregende Storys ausgraben können. Als sich ihr dann vor zwei Jahren die Chance geboten hatte, für das namhafte Vanity Fair -Magazin in dessen neu eröffnetes Büro in Shanghai zu wechseln, hatte sie keine Sekunde gezögert. Plötzlich war sie Korrespondentin und die Nummer 5 im Büro. Mit gerade einmal 30 Jahren! Ihr Vater hatte sie zu diesem gewagten Schritt ermutigt. Cathy war auch der Meinung, ihren Eltern etwas zurückzahlen zu müssen. Sie wollte ihnen nicht so auf der Tasche liegen wie ihr feiner Herr Cousin, der ihrer Meinung nach völlig nutzlos mit dem mühsam Ersparten ihres Vaters gepäppelt wurde.
Die alte englische Standuhr in der Diele schlug sieben. Wo blieben die Gäste? Wann würde Jeremy endlich kommen? Sie versuchte ihn noch einmal anzurufen, erreichte ihn aber nicht. Wahrscheinlich befand er sich noch immer tief unter dem schlammigen Grund des Huangpu.
Als sie gerade entschieden hatte, lieber noch ein paar Bier- und Weisweinflaschen mehr kaltzustellen, läutete es an der Tür. Für einen Moment hoffte Cathy, dass schuldbewusst grinsend ihre Langnase vor ihr stehen würde. Doch das breite Grinsen, in das sie nach dem Öffnen der Haustür starrte, entsprang nicht kantig britischen, sondern runden chinesischen Zügen. »Chen!«, rief Cathy, »schön, dass du da bist. Du bist der Erste. Wolltest du nicht erst später kommen?«
Chen, der ein legeres weißes Hemd über einer dunkelblauen Drillichhose trug, verzog säuerlich den Mund. »Ich konnte es eben kaum erwarten, dich wiederzusehen«, antwortete er knapp. »Und natürlich Jeremy«, schob er in einem etwas gelangweilt wirkenden Tonfall hinterher wie ein Schüler, der vor dem Lehrer sein Sprüchlein aufsagen muss.
Cathy wusste natürlich, dass ihr kleiner Cousin – der im Übrigen nur zwei Jahre jünger war als sie – Jeremy nicht ausstehen konnte und anlässlich seiner sporadischen Telefonate nach Los Angeles jede Gelegenheit nutzte, um bei seinem Ziehvater gegen Cathys Lebensgefährten zu stänkern. Dabei kannte er Jeremy nicht einmal richtig. Aber Chen mochte keine Ausländer. Die Gweilos hatten sein Volk in den Opiumkriegen gedemütigt; sie hatten den Pekinger Sommerpalast zerstört und den Boxeraufstand blutig niedergeschlagen, sie hatten wiederholt auf Kosten Chinas mit den Japanern paktiert – er könnte die Liste noch endlos fortsetzen. Dass Chen in China im Grunde selbst eine Art Ausländer war, hatte wahrscheinlich eher noch dazu beigetragen, seinen Patriotismus zu steigern. Seine Eltern waren Ende der siebziger Jahre, in der Zeit der Modernisierung nach Maos Tod, aus Kalifornien nach Shanghai zurückgekehrt, hatten hier aber nie wieder so recht Fuß fassen können, und der bald darauf geborene Chen hatte sich in seiner Kindheit und Jugend immer ein wenig wie ein Fremdkörper behandelt gefühlt.
»Wo steckt sie denn eigentlich, deine imperialistische Langnase?«
»Jeremy? Im Stau«, seufzte Cathy. »Mein guter Chen«, setzte sie hinzu, während sie ihn am Arm zur Bar im Innenhof führte, »vielleicht kannst du mir heute Abend ja einen klitzekleinen Gefallen tun …« Chen sah seine Cousine misstrauisch an »… und dich mit deinen politischen Ansichten etwas zurückhalten – ausnahmsweise mal keine deiner dogmatischen Chinareden halten und auch deine despektierlichen Äußerungen über Angehörige anderer Völker unterlassen? Wir haben heute Abend ein – na ja – internationales Publikum hier.« Statt zu antworten, zog er mit provozierender Langsamkeit eine Flasche Tsingtao-Bier aus einem Berg von Scherbeneis. Das Bier aus der größten Brauerei Chinas, ursprünglich als »Germania-Brauerei« von deutschen Siedlern in Quingdao gegründet, stellte in seinen Augen eine der wenigen positiven Hinterlassenschaften der Kolonialzeit dar.
»Ja?«, fragte Cathy geduldig, »versprochen?« Sie hätte ihn ohrfeigen können.
»Es ist schließlich deine Party, Cathy«, antwortete Chen unerträglich lässig und trank.
»Ich glaube an dich, mein Lieblingscousin!« Cathy konnte die spätpubertäre Überheblichkeit dieses Grünschnabels nicht ausstehen. Sie war erleichtert, als es in diesem Moment erneut an der Haustür läutete.
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