1 ...7 8 9 11 12 13 ...26 Neu konstituierten sich bereits 1970 die Sektionen Phonetik sowie Sprachheilkunde zu denen zwei Jahre später die Neugründungen Kontrastive Linguistik und Fehleranalyse und Stilforschung und Rhetorik kamen, und die Sektion Psycholinguistik wurde zu der Sektion Soziolinguistik / Psycholinguistik erweitert.
Ein genauerer Blick ist u.E. indes angebracht zur Gründung der damaligen Sektion Linguistik . Die Frage aus gegenwärtiger Sicht ist dabei die folgende: Sahen Albert Raasch und seine GAL-Mitbegründer Linguistik als „Sektion“ der – jedenfalls für Deutschland von ihnen gegründeten – , Angewandten‘ Linguistik an? Diese Frage wäre im Jahre 1968 womöglich – trotz zeitbedingt wohl unabweisbarer aktueller Trends zum Nachholen in der sprachwissenschaftlichen Theorien- und Methodenbildung – doch wohl eher mit einem deutlichen Nein zu beantworten gewesen. Die frühen „Angewandten“ waren sich u.E. sehr wohl des Umstandes bewusst, dass es ohne eine aktuell begründete, theoretisch-linguistische Komponente auch keine verantwortbaren Anwendungen geben könne.
Und angesichts der erstaunlichen Zahl von 700 Teilnehmern, die den 2. Jahreskongress der GAL besuchten, ergibt sich die Frage: Weshalb solch ein – in heutiger Terminologie – Hype ?
2 Das Fundament von Albert Raasch als Gründer: über zwei Jahrtausende
Man kann nicht umhin, für eine (vielleicht die ) Antwort hierauf auf die oben zitierte Aussage von Albert Raasch vom GAL-Kongressbericht 1970 zu rekurrieren: Rückstand aufholen! Diese seine Diagnose der Zeit um 1970 war in zweifacher Weise berechtigt.
Albert Raasch ging es wohl um die Angewandte Linguistik. Gerade auch er wusste qua seines Lebenslaufs jedoch, dass Anwendung ohne Theorie ein Salto Mortale sein würde. So empfanden dies – vor Deutschland – zu Beginn der 1960er Jahre bereits andere Europäer. Ergo: Im Jahre 1964 wurde in Nancy (Frankreich) eine Organisation namens Association Internationale de Linguistique Appliquée (AILA) gegründet. Weltumfassend wollte sie sein und ist es ja denn auch geradezu exorbitant schnell geworden. Vorbereitet worden war sie von Antoine Culioli und Guy Capelle, also von romanistischen Kollegen unseres Jubilars. Ziel dieser Weltorganisation war und ist es, die wissenschaftliche Öffentlichkeit für die Angewandte Linguistik zu sensibilisieren und diese zu fördern. Dies geschah mit großartigem Erfolg: Bereits 1969 – mithin erst wenige Monate nach der Gründung der GAL – umfasste diese internationale Dachorganisation AILA bereits 28 Mitglieder, d.h. nationale Tochterorganisationen (sogenannte national affiliates) als jeweilige Repräsentantinnen ihres jeweiligen Landes / Staates.
Nun, wie oben qua Albert Raasch angedeutet: Fraglos hatte Deutschland einen Nachholbedarf in Angewandter Linguistik. Diesen aber weitgehend eben nur wegen eines gleichermaßen dringlichen Desiderates in dem Feld, das man um 1968 Moderne Linguistik nannte, d.h. Theoretische Linguistik (Kap. 2.2.1).
Ein bloß ein Jahrhundert zurückreichender Blick beantwortet die oben gestellte Frage „Ist die Theoretische Linguistik ein Teil der Angewandten Linguistik? somit wohl mit einem Nein . Ein über zwei Jahrtausende zurückreichender Blick hingegen beantwortetet sie – wenngleich nicht uneingeschränkt – mit einem Ja , so doch zumindest begründet mit einem Jein bzw. doch mit einem eher überwiegenden Ja (Kap. 2.2.2).
2.2 Theorie contra (?) Anwendung
2.2.1 Strukturalismus und Generativismus als Nachholbedarf
Die Komparativisten, die (Post-)Humboldtianer (bis zur Weltanschauungstheorie von Sprache) sowie die Zweige der sogenannten Psychologie der Sprache (vs. spätere Psycholinguistik ) bis zur (strittigen) sogenannten Völkerpsychologie reichend, die positivistischen Junggrammatiker ( Neogrammarians ) waren als Erbe des späten 18. und vor allem des 19. Jahrhunderts zur Kenntnis genommen worden und dominierten die Philologien. Indes: Was sollte man mit den gesammelten Daten dieser Bemühungen anfangen, wie sollte man sie interpretieren? Dafür versuchten linguistische Schulen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – also in etwa bis zur Gründung der GAL – Antworten zu geben. Ohne die jüngere Geschichte der Linguistik zu rekapitulieren, hier nachfolgend nur sogennante ‚Schulen‘, bzw. deren Schwerpunkte, die sich 1968ff. die Angewandte Linguistik – im Rahmen damals angenommener Möglichkeiten – zunutze zu machen vermochte. Da waren, ohne Vollständigkeit zu beanspruchen:
Der heute üblicherweise als Vater – aus unserer Sicht eher als Großvater – des Strukturalismus bezeichnete Ferdinand de Saussure (1857-1913) mit seiner Genfer Schule sowie in Paris mit der parole, mithin auch gesprochener / geschriebener Sprache versus der langue und ihrer jeweiligen Struktur, innerhalb derer jedes einzelne Element eines Systems seinen Stellenwert (valeur) erst bestimmen kann – sei es z.B. ein Laut im phonetischen System, sei es ein Lexem im semantischen System einer Sprache –, zudem mit Sprache als organisiertem System mit sozialer Funktion und mit auf Oppositionen beruhenden sprachlichen Systemen. Dabei ist das Erbe von Beaudouin de Courtenay (1945-1929) und dessen früher Kazaner Schule spürbar.
Die Prager Schule um und nach Roman Jakobson (später Harvard / USA), N. Trubetzkoy, V. Mathesius u.a. mit ihrer Betonung sprachenspezifischer Phonologie und dann auch der Morphonologie, der Sprache als Kommunikationsinstrument.
Die Kopenhagener Schule der Glossematik von, um und nach Viggo Broendal und Louis Hjelmslev, in der Logik und Grammatik verbunden wurden, die aber sprachübergreifend auf die allgemeine Semiotizität von Zeichen ausgriff.
Da waren auch und nicht zuletzt die diversen Ausdifferenzierungen US-amerikanischer Richtungen des Strukturalismus, so die YALE-Schule um Leonard Bloomfield, in deren Rahmen auf der Basis des Behaviorismus analytische Deskriptionsinstrumentarien für Sprachstruktur geschaffen wurden – allerdings um den Preis der semantischen Dimension. Der Nachdruck lag hier indes auf Deskription statt Präskription.
Dagegen aber auch die von Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf begründete anthropologische Richtung, die über den innersprachlich analysierbaren Distributionalismus auf die Dimension der Wahrnehmung ausgriff: Sprache bedinge das Denken und dieses die Wahrnehmung der Wirklichkeit.
Sodann die Generative Transformationsgrammatik mit ihrem Begründer Noam Chomsky. Erwachsen aus der YALE-Tradition von Zellig Sabbettai Harris griff er jedoch bereits in seinen Syntactic Structures (1957) über Sprache als ergon , also eines Strukturwesens, beschreibbar im hier und jetzt, hinaus und orientierte sich hin zu Sprache als energeia , mithin auf das Werden grammatischer Strukturen bezüglich deren logischer Organisation – unterstützt von Chomskys Herkunftsdisziplin, der Mathematik.
Da war – in späteren Übersichten oft vergessen – auch die Britische Schule des Kontextualismus von und nach John Rupert Firth. Begründet auf der weltweit vergleichenden Anthropologie / Ethnologie (als Vertreter z.B. Malinowski (1986) oder Mead) wurde bereits erkannt, wie Sprachäußerungen vom verbalen, weiter physischen und noch weiter vom kulturellen Kontext abhängig sein mögen. Im Ergebnis stellte M.A.K. Halliday Sapir und Whorf auf den Kopf qua seiner Soziosemiotik, gemäß derer die sozial bedingte Wahrnehmung der Wirklichkeit das Denken und dieses erst dessen sprachlichen Ausdruck bestimme.
Fazit bis hier: Das oben zitierte Nachholen und Weiterentwickeln dieser theoretisch-linguistischen Ansätze ist unbestreitbar gelungen. Gilt dies indes auch für deren Anwendung(en)?
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