„Dieser Sigurd Renko sieht fast so aus wie du!“
„Aber der ist doch fett“, antwortete ich jetzt empört, ohne nachzudenken.
„Aber mein Bärchen, ihr seht eben beide stattlich aus.“
Sinnlos, über den verklärten Blick einer Mutter zu diskutieren. Ich konnte nicht anders, als mich zu erheben und zum Spiegel im Vorraum zu gehen. Der gehörte wieder einmal geputzt, war mein erster Gedanke, als ich mein Ebenbild in den Schlieren betrachtete.
„Vielleicht hast du recht“, sagte ich, bevor ich mich verabschiedete und auflegte. Ich stand noch einige Minuten vor dem Spiegel und knetete an meinen Rundungen. Ich fragte mich, ob die Gefängniskost entsprechend kalorienarm sein würde, wusste aber um das Bild einiger ehemaliger Klienten, die an diesem Ort noch dicker geworden waren.
Leider hatte meine Mutter nicht ganz unrecht, wenn sie mir eine optische Ähnlichkeit zu Renko zumaß. Wir hatten beide diese Backen, die das Gesicht kreisrund erscheinen lassen, wie man das von Kinderzeichnungen kennt. Mein Kinn war vielleicht etwas ausgeprägter und länger, doch auch die eher kleine und knubbelige Nase hatten wir gemein. Renko hatte zwar eine andere Frisur und Haarfarbe, aber auch das eher dünne Haar, das sich um den Kopf legte, teilten wir. Bei schlechtem Licht hätten wir als Brüder durchgehen können.
Mein Telefon läutete abermals. Wieder meine Mutter. Bevor sie noch etwas sagen konnte, hatte ich das Wort ergriffen: „Du musst dich vorhin völlig getäuscht haben. Ich und Renko, wir haben optisch nicht viel gemein.“ Und auch sonst nichts, sagte ich zu mir, als ich an seine Millionen dachte.
„Deswegen hab ich jetzt gar nicht angerufen“, sagte meine Mutter. „Ich habe vorhin vergessen, dir zu sagen, dass ich morgen bis zum Wochenende wegfahre. Es wäre toll, wenn sich in der Zeit jemand um Papa kümmern könnte. Red’ dich mit deinem Bruder zusammen.“
Das hatte gerade noch gefehlt. Weder hatte ich Lust, den alten Trottel, der nur mehr vor sich hin sabberte, zu besuchen, noch wollte ich mit meinem Arschloch von Bruder deswegen reden müssen. Ich hatte jetzt etwas anderes zu tun. Ich musste mich auf die Spur von Maria Schneider machen. Und diese Spur führte mich zuerst zu Sigurd Renko.
Ich rief Dragana an. Die war es gewohnt, dass ich sie öfter des Abends anrief. Meist war ich dann betrunken und versuchte sie zu überreden, mit mir zu schlafen. Es klappte nie. Vermutlich sehnte ich mich auch gar nicht nach Sex, sondern wollte nur mit jemandem reden und dabei eine vertraute Stimme hören.
„Bist du um diese Zeit schon dicht?“, fragte sie anstelle einer Begrüßung.
„Warum?“ entgegnete ich. „Wie kommst du darauf?“
„Wenn du am Abend bei mir anrufst, dann nur, weil du mit mir bumsen willst.“
Ich lachte ins Telefon und sagte: „Nein. Ich brauch etwas anderes von dir. Du kennst dich doch in der High Society so gut aus. Was weißt du über Sigurd Renko?“
Ich hörte sie ins Telefon atmen und konnte bildlich die Zahnrädchen in ihrem Hirn rattern sehen, als sie sich jetzt vermutlich fragte, ob das ein Ablenkungsmanöver sein könnte, um sie letztlich doch wieder ins Bett zu bekommen. Bevor die Pause zu lang wurde, sagte sie: „Ziemlich viel. Ich hoffe, du hast Zeit.“
Zum Glück musste ich nicht weit fahren. Es war ein typisches Häuschen in einer Wiener Vorstadtgegend. Die Hecken hoch, die Gärten klein und die Garagen auch. Und da jeder hier einen Zweitwagen hatte, waren die engen Gassen auf beiden Seiten zugeparkt. In den meisten Wohnzimmern war der Fernseher an.
Kalksburg war vor allem wegen seiner Trinker bekannt, jener Alkoholaffinen, die es übertrieben hatten und jetzt auf Entzug dorthin kamen. „Genesungsheim Kalksburg“ hatte diese Sonderanstalt bei der Eröffnung im Jahr 1961 geheißen, was doch eine sehr drollige Umschreibung für den Zweck dieser Klinik war. Die Säufer hatten sich das Hirn vom Hochprozentigen zersetzen lassen und wurden hier wieder mit Wasser aufgefüllt und waren dann – oh Wunder – genesen. Wie bei einer Dialyse wurde hier der Alkohol aus den Adern herausgespült und durch reines Hochquellwasser ersetzt.
Eine frische Brise kam auf und trug den Duft der blühenden Hecken zu mir. Ich näherte mich im schwankenden Licht der Straßenlaternen der Eingangstür jenes Hauses, das mir Dragana als die richtige Adresse genannt hatte. Sie bezog sich dabei auf ein sehr frühes Interview des Latifundienmoguls, worin er auf seine Jugend zu sprechen kam. Damals sei er mit seinem besten und einzigen Freund durch dick und dünn gegangen. Auch die eine oder andere Jugendsünde habe man dabei begangen. Doch mit den Jahren sei der Kontakt letztlich abgebrochen.
„Wenn er irgendwo abgetaucht ist, dann nur bei Josef Frantisek“, hatte Dragana behauptet.
Angeblich waren die beiden als Jugendliche beim Dealen am Schulhof erwischt worden und Frantiseks Vater, ein leitender Beamter beim Magistrat, hatte das dann irgendwie ins Reine bringen müssen. Ich dachte mir, dass einem ein Talent für das Handeln und Geschäftemachen in die Wiege gelegt sein musste. Renko hatte diese Gabe offenbar von klein auf gespürt und sich schon damals nicht von Gesetzen oder Konventionen leiten lassen. Nur so kommt man weiter, dachte ich mir, bevor Dragana erzählte, dass sich die Sache aber schnell glattbügeln ließ, weil die beiden Kumpane nur getrocknete Kräuter angeboten hatten. Sie habe die Geschichte einmal von einem Polizisten erfahren. Der meinte aber, dass die beiden durchaus noch andere Sachen am Kerbholz hätten, jedoch nichts, das sich beweisen lasse.
„Wenn du irgendwo untertauchen musst, dann tust du das nicht bei jemandem, dem du vertraust, nein, das tust du bei jemandem, den du in der Hand hast. Macht zumindest mein Mann immer so“, hatte Dragana dann die Unterhaltung beendet.
Ich fragte mich, ob sie etwas mit diesem Polizisten hatte, und gestand mir ein, in diesem Moment so etwas wie Eifersucht zu verspüren.
Vor einem Gartentor aus grau lackierten Metallstreben und mit einem hässlichen Türknauf, wie man sie selbst vor dreißig Jahren nur mehr an ganz wenige Menschen verkaufen konnte, kam ich zu stehen. Frantisek stand neben der Glocke und ich betätigte diese trotz der vorgerückten Stunde. Durch einen der Gitterstäbe konnte ich sehen, wie sich etwas im Haus bewegte. Ein besonders schlauer Zeitgenosse schob einen Vorhang etwas zur Seite und blickte zum Gartentor. Ich drückte nochmals den Knopf. Diesmal so lange, dass ich das Summen bis zu mir auf die Straße hören konnte. Kein Wunder, hier war es so ruhig, dass ein Mäusefurz als nächtliche Ruhestörung zur Anzeige gebracht worden wäre. Der Vorhang fiel in seine Ausgangsposition zurück.
„Gehen Sie weg, sonst hole ich die Polizei!“, tönte eine blecherne Stimme aus dem Lautsprecher.
„Machen Sie das, die freut sich sicher, Herrn Renko endlich verhören zu können.“
Ein Summen ertönte und ich konnte die Tür aufdrücken. Ich ging über einen mit Steinplatten ausgelegten Weg auf drei Stufen zu, die in das Haus führten. Die Eingangstür, in deren Blatt einige bunte Milchglasscheiben eingelassen waren, wurde von einem Mann um die vierzig geöffnet. Er trug ein altes, ausgewaschenes T-Shirt und Boxershorts. An den Füßen Sandalen. Er fuchtelte mit der Rechten durch die Luft und zischte in meine Richtung: „Schnell, machen Sie schon, nicht dass Sie jemand sieht.“
Ich liebe diese Wiener Außenbezirke. Jeder behält den anderen im Auge. Untertags lächeln sich die Nachbarn freundlich zu und am Abend zerreißen sie sich das Maul über den andern. Rundumüberwachung. Nicht einmal der Innenminister in einem Polizeistaat würde so etwas derart lückenlos und flächendeckend hinbekommen. Frantisek zog mich ins Haus und drückte eilig die Tür zu. Er musterte mich. Ich war unrasiert, mein hellblaues Jackett sicher zerdrückt und mein Hemd hatte am Hals seit dem Mittagessen einen Fleck. Aber es ging hier nicht um mich.
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