Bald war ich bei der Wohnung meines kleinen Freundes angekommen.
Ich klingelte, die Tür ging auf, und ich stand der Mutter Valdemars gegenüber.
„Ist Valdemar zu Hause?“ fragte ich, nachdem ich sie höflich begrüßt hatte.
„Ja, Nonni, er ist da — komm nur herein.“
Ich folgte der guten Frau in ihren kleinen Salon hinein und fand dort Valdemar mit einem Buche am Tisch sitzen.
„Auf diese Weise machst du deine Ferien, Valdemar?“
Der kleine Junge sprang auf, drückte meine Hand und sagte: „Oh, ich habe schon viel draußen gespielt. Jetzt lese ich eine schöne Geschichte, Nonni.“
Er zeigte mir das Buch. Es waren die Geschichten des großen dänischen Märchendichters Andersen, der damals gerade in Kopenhagen weilte.
„Die habe ich schon alle während des Schuljahres gelesen“, sagte ich zu Valdemar, „sie sind wunderschön und werden dir sicher auch gefallen. — Aber jetzt habe ich mit dir von schöneren und wichtigeren Dingen zu sprechen.“
Valdemar schaute mich mit seinen großen Augen lebhaft an und fragte:
„Und was ist denn das, Nonni?“
„Wir müssen jetzt sobald wie nur möglich unsern großen Ausflug machen.“
„Ach ja, der Ausflug. . . . Ich bin bereit, Nonni. Aber warum eilt es denn so?“
„Das ist es, was ich dir gerade sagen will.“
Die Mutter bat mich, Platz zu nehmen. Und nun erzählte ich beiden das, was ich soeben von Dr. Grüder erfahren hatte.
„Aber Nonni, wenn du nach Frankreich gehst, dann werden wir uns vielleicht nie mehr sehen!“
„Ja, Valdemar, das ist das Traurige dabei. Ich sehne mich zwar danach, die große Reise nach Frankreich und Avignon zu machen, aber es tut mir schrecklich leid, dich und alles andere hier in Kopenhagen verlassen zu müssen. Ich habe hier so viele Freunde und bin nun schon so an alles hier gewöhnt.“
„Armer Nonni, ich kann verstehen, daß die Trennung von allem, was du hier schon so liebgewonnen hast, dir weh tut. Aber“, tröstete mich die gute Mutter Valdemars, „du wirst in Frankreich neue Freunde finden, die dich bald ebenso lieb haben werden wie die alten hier.“
„Aber einen so guten Freund wie Valdemar werde ich schwerlich in Frankreich finden“, antwortete ich der Mutter Valdemars.
„Es freut mich, Nonni“, sagte sie, „daß ihr so gute Freunde geworden seid. Ihr paßt vortrefflich zueinander.“
„Ja, das meinen wir auch“, riefen wir beide mit freudigem Lachen aus und schüttelten uns kräftig die Hände.
Die Frau lächelte mütterlich zu unserer Knabenfreundschaft und frug:
„Und nun der Ferienausflug? Wann soll er stattfinden? Und wo wollt ihr hin?“
„Ich habe mir gedacht, daß wir diesmal nicht eine Seereise, sondern eine Landreise machen sollten.“
„Das lobe ich mir. Auf dem Lande ist es auch sicherer als auf dem Meere.“
„Ich denke wohl“, fügte Valdemar hinzu.
„Dann sind wir ja ganz einig“, bemerkte ich. „Und wenn auch hie und da eine Gefahr sich zeigen sollte, dürfen Sie nicht bange sein, denn wir beide sind tapfer und ohne Furcht, und wir nehmen einen Revolver mit.“
Bei diesen Worten erschrak Valdemars Mutter sehr. „Einen Revolver! Wozu denn einen Revolver?“
„Den brauchen wir gegen die Hunde. Die sind zuweilen sehr bissig.“
„Wie der schwedische Hund bei der Waldhütte“, rief lachend der kleine Valdemar.
„Ja, eben“, fuhr ich fort, „und es könnte auch sein, daß wir den Revolver gegen böse Menschen, Wölfe und Bären und wilde Stiere gebrauchen müßten.“
„Wölfe und Bären gibt es, Gott sei Dank, nicht hier, Nonni“, erwiderte die Mutter Valdemars. „Auch wilde Stiere kaum. Aber böse Menschen gibt es hier, so wie überall. Doch ich würde nicht raten, euch in einen Kampf mit bösen Menschen einzulassen. Dafür seid ihr noch etwas zu klein.“
„Aber wir haben doch damals auf dem Sund mit Hilfe unseres Revolvers die schwedischen Seeräuber besiegt“, bemerkte ich.
„Ja, das ist wahr. Das habt ihr gut gemacht. Aber diese ,Seeräuber‘ waren damals nur junge Strolche. — Gegen Erwachsene dagegen dürft ihr euch nicht in einen Kampf einlassen.“
„Wir wollen vorsichtig sein“, versprach ich, „und uns ohne Not in keine Gefahr begeben. Sie brauchen nicht bange zu sein. Ich werde Valdemar frisch und gesund zurückbringen.“
„Das hoffe ich auch, mein kleiner Nonni. Aber wo wollt ihr eigentlich hin?“
„Ich habe mir gedacht, eine Fußwanderung quer durch die Insel Seeland zu machen.“
„Das ist ein vernünftiger Gedanke, Nonni. Und das läßt sich auch ziemlich leicht machen. Seeland ist eine sehr reiche und fruchtbare Insel. Da werdet ihr viel Schönes zu sehen bekommen. Aber an welchem Tage willst du den Ausflug anfangen?“
„In etwa vier Tagen. Wir müssen nämlich ungefähr vier Tage haben, um uns vorzubereiten.“
„Auch das ist vernünftig, daß ihr an eine ordentliche Vorbereitung denkt. — Was sind das aber für Vorbereitungen?“
„Das sind allerlei Dinge. — Um nur einiges zu nennen, so werde ich z. B. die Landkarte studieren. Ich werde mir besonders die Wege, die Wälder und die Städte notieren. Und auch die Bauernhäuser, die ich auf der Karte finde. — Dann müssen wir sorgen, daß wir uns etwas Reiseproviant verschaffen, Fleisch und Brot und Butter und besonders viele trockene Feigen. Ferner eine Spirituslampe und einen Kochtopf. — Das ist so ungefähr die Hauptsache.“
„Das ist ja nicht so übel“, meinte die Frau lächelnd. „Du hast ja so ziemlich an alles Wichtige gedacht. Wir wollen hoffen, daß die Reise gut vonstatten geht.“
„Das wird sie sicher“, sagte ich. „Wir werden dann einen Teil der Reise zu Pferd machen, wenn wir gute Pferde auf dem Wege treffen. Oder auch fahren, wenn Fuhrleute uns in ihre Wagen aufnehmen wollen.“
„Ja wahrhaftig, ihr seid unternehmend. Doch möchte ich dir raten, Nonni: Was die Pferde betrifft, sei vorsichtig; sonst könnte es sein, daß ihr als Pferdediebe festgenommen würdet. Laßt lieber die Pferde in Ruhe. Wenn aber Leute euch zum Mitfahren einladen, dann fahrt nur mit.“
Es wurde also abgemacht, daß wir auf das Reiten lieber verzichten und statt dessen die Gastfreundschaft der Fuhrleute annehmen sollten, wenn sie uns angeboten würde.
Nachdem ich noch etwas mit meinem Freunde Valdemar geplaudert hatte, brach ich auf und kehrte nach dem Grüderschen Hause zurück.
Da ich nicht ganz sicher war, ob der ein wenig strenge Dr. Grüder mir die Erlaubnis zum Ausflug geben werde, hielt ich es für ratsam, sein Haus auf einige Tage zu verlassen und in das gastliche Haus meines Landsmannes, des Herrn Professors Brynjúlfsson, hinüberzusiedeln. So hatte ich es ja vor meiner Kahnfahrt nach Schweden auch gemacht. Ich ging also zum Herrn Doktor Grüder hinein und sagte:
„Ich nehme an, Herr Doktor, daß Sie nichts dagegen haben, wenn ich etwa auf eine Woche zum Herrn Professor Brynjúlfsson hinübersiedle. Er nimmt mich immer sehr gern auf.“
„Gewiß habe ich nichts dagegen, mein lieber Nonni. Es ist sogar sehr vernünftig von dir, daß du vor deiner Abreise nach Frankreich deinen Landsmann besuchst. Das wird wohl auch dein Grund sein?“
„Ja, Herr Doktor, das ist auch mit ein Grund“, antwortete ich ein wenig ausweichend.
So konnte ich noch an demselben Tage zum Herrn Professor Brynjúlfsson hinüberziehen.
Dort war ich ja ein alter Bekannter, und ich brauche daher nicht zu erzählen, mit welcher Freundlichkeit ich im Hause des Herrn Brynjúlfsson empfangen wurde, nicht nur vom Herrn Professor selber, sondern auch von seiner Frau und seiner Mutter und von der guten Hausmagd.
Schon bei meiner ersten Begegnung mit dem Professor brachte ich mein Anliegen vor.
Herr Brynjúlfsson fand meinen Plan sehr gut und stimmte ihm völlig bei.
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