In der ersten Zeit blieb mein Mann noch zu Hause. Als sich sein Zustand so verschlechterte, dass er ohne Pflege nicht mehr auskam, beschlossen wir, in ein Hospiz zu gehen. Wir hatten uns über die Hospizbewegung informiert und nur Gutes gehört. Dass dort ein schmerzfreier, würdevoller Tod möglich sei. Meine Mutter würde zu uns ziehen und für die beiden Mädchen sorgen. Ich würde mit ins Hospiz einziehen. Es war sowohl möglich, ein Bett in sein Zimmer zu stellen, als auch später, wenn es nicht mehr ging, die Nacht gemeinsam in einem Raum zu verbringen, ein Gästezimmer zu nehmen. Wir hatten uns einige Hospize angeschaut und uns für ein modernes Haus entschieden in einem neuen Gebäude mit großen Fenstern und hellen freundlichen Zimmern, zentral gelegen, sodass wir gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen waren.
Als mein Mann seinen Platz und sein Zimmer bekam, richtete ich es ihm zuerst wohnlich ein. Ich hängte Fotos von uns allen auf. Die Mädchen hatten Bilder gemalt. Eins stellte Papa im Himmel dar, auf einer Wolke. Ein anderes zeigte Papa, wie er ein Gewitter schickte mit Regen, Blitz und Donner. Auch die hängte ich in sein Blickfeld. Meine Kleine hatte ihm ihren Teddy und meine Große ihren Hasen ins Bett gelegt. »Damit du nicht so alleine bist.«
Mein Mann und ich sprachen offen über den Tod. Das tat gut. Ich musste nichts zurückhalten. Der größte Wunsch meines Mannes war, die Einschulung der Kleinen noch mitzuerleben. Das schaffte er auch tatsächlich. Zwar im Rollstuhl, aber er konnte dabei sein. Es gibt ein Foto, das ihn mit der Kleinen auf dem Schoß und großer Schultüte zeigt. Danach ging es rapide bergab. Ab da veränderte er sich. Er wurde sehr ruhig, war oft auch abwesend. Für uns beide war jetzt endgültig klar: Wie lange noch? Er konnte immer schlechter essen, bald blieb nichts mehr drin. Kurz nach Frühlingsanfang begannen wir mit künstlicher Ernährung über den Port. Wir hofften, dass er dadurch noch mal auf die Beine kommen würde.
Aber nach zwei Wochen war immer noch keine Besserung zu spüren. Da der Port eine Qual für ihn war, verweigerte er diese Art der künstlichen Ernährung. Danach wurde er immer schwächer. War er einst ein stattlicher großer Mann von 125 Kilo, so wog er zum Schluss nur noch 68 Kilo. Wenn ich das Foto betrachtete, wo er die Kleine huckepack hat, kamen mir die Tränen. Da war er noch muskulös. Kein Gramm Fett zu viel. Im Fitnessstudio gestählt. Seine Tätowierungen thronten prall auf seinen muskelbepackten Armen. Jetzt sahen sie faltig und mickrig aus.
Sein Bart war ausgedünnt. Seine Haare ausgefallen. Die Tattoos auf der schlaffen Haut kaum erkennbar. Früher hatten wir uns immer über seine Eitelkeit lustig gemacht. Er brauchte von uns allen am längsten im Bad. Er roch immer gut. Jetzt konnte er sich nicht mehr alleine rasieren, musste sich duschen lassen und an Bodybuilding war überhaupt nicht mehr zu denken. Stattdessen brauchte er Windeln. Das war auch für ihn sehr schwer zu ertragen.
Manchmal brach mir sein Anblick das Herz. Dann ging ich in den Ruheraum und betete. Ich blätterte in dem Buch, in dem man seine Gedanken niederschreiben konnte. Wenn ich die Sätze las, die meine Vorgänger dort hinterlassen hatten, fühlte ich mich nicht mehr so allein. Seine Ziele wurden immer bescheidener. Erst wollte er es bis zur Einschulung schaffen. Dann nur noch bis zum nächsten Tag. Zweimal war es fast zu Ende. Doch er kam noch mal zurück. Wenn er dann die Augen aufschlug, sagte er in einem seiner wenigen lichten Momente: »Ich habe an dich und die Mädchen gedacht. Da konnte ich noch nicht gehen.« Es war ein verzweifelter Kampf. Vor dem Tod hatte mein Mann keine Angst. Aber davor, seine Familie zu verlassen. Die Tatsache, dass seine Töchter bald keinen Vater mehr hätten, das machte ihn verzweifelt. Er sagte einmal: »Ich würde alles geben, wenn ich euch noch ein bisschen begleiten dürfte. Es ist so schwer, zu gehen, wenn man im Leben noch etwas zu Ende bringen möchte. Es tut so weh, die Kinder alleinzulassen.«
Wir weinten auch viel zusammen. Immer hielt ich fest seine Hand oder streichelte ihn über die Wange. Immer öfter war er weggetreten. An guten Tagen kam meine Mutter mit unseren Mädchen. Sie betrachteten ihn kritisch und fragten: »Papa ist so dünn. Hat der Krebs das schon alles gefressen?« Manchmal konnten wir lachen. Aber die guten Tage wurden deutlich weniger. Immer öfter hatte ich einen Kloß im Hals, wenn ich ihn ansah. Es kam die Zeit, als es nur noch bergab ging. Er hatte literweise Flüssigkeitsansammlungen im Bauchraum, die punktiert werden mussten. Immer zehn bis zwölf Liter. Unfassbar. An einem frühen Montagabend kollabierte mein Mann und drei Stunden später musste ich für immer Abschied nehmen. Das war verdammt nicht leicht. Aber ich danke dem lieben Gott, an den ich eigentlich nicht glaube, dass ich die ganze Zeit über an seinem Bett sitzen und seine Hand halten durfte. Und ich danke den Hospizmitarbeitern, dass sie uns so unglaublich einfühlsam und liebevoll unterstützt haben, alles Menschenmögliche getan haben, um uns den Abschied zu erleichtern.
Zuerst wusste ich überhaupt nicht, wie es weitergehen sollte. Ich war am Ende. Ich war tieftraurig. Auch froh, dass er es geschafft hatte und keine Qualen mehr leiden musste. Ich rief meine Mutter an, und nachdem mein Mann abends gewaschen und hergerichtet worden war, kam sie mit unseren Töchtern. Die schauten sich ihren Papa genau an und fragten: »Ist seine Seele im Himmel?« – »Kann er uns hören?« – »Sieht er uns?« Meine Kleine sagte: »Papa, ich bin so traurig«, und da mussten wir wieder alle weinen.
Bei der ersten Geburtstagsfamilienfeier ohne ihn habe ich schon auf dem Weg dahin nur geheult. Weil ich wusste, dass es nicht nur jetzt so ist, dass ich ohne den Vater meiner Kinder, meinen Mann, irgendwohin muss, sondern dass er nie wieder dabei sein wird.
Ich war an einem Sonntag nach seinem Tod bei meinen Eltern. Es war ein verkaufsoffener Sonntag. Ich dachte, ich gehe mal durch die Stadt mit meinen Töchtern, damit ich auf andere Gedanken komme, etwas anderes sehe. Aber es fiel mir so unendlich schwer. Die Stadt war voll mit Familien, überall heile Welten. Das war einfach noch zu viel für mich.
Ich hatte die ganze Zeit einen Druck auf der Brust und musste mich zusammennehmen, um nicht einfach loszuheulen. Ich war froh, als ich endlich wieder im Auto saß, nach Hause fahren und mich wieder verkriechen konnte. Für so was war es wohl einfach noch zu früh.
Dieses Nie-Wieder, dieses Unendliche ist schwer zu ertragen. Am liebsten wäre ich manchmal schon 100 Jahre alt und wüsste, ich bin ganz bald bei ihm. Aber ich bin Mitte 30. Es wird wohl noch ein wenig dauern, bis ich ihn wiedersehe. Es zerreißt mich innerlich, wenn ich mich in solchen Gedanken wälze. Ich versuche ja schon immer, meine Gedanken zu ordnen, aber das ist nicht einfach. Schon gar nicht, wenn man dann abends allein im Bett liegt und nicht einschlafen kann.
Aber irgendwo musste ich ja anfangen. Meine Töchter sind ein großer Halt für mich. Sie zwingen mich dazu, wieder in den Alltag zu kommen. Und das ist gut so. Es sind nur kleine Alltäglichkeiten. Morgens pünktlich aufstehen, einkaufen, Essen kochen, sauber machen, die Kinder zu ihren Terminen fahren. Aber all das hilft mir, weiterzuleben und nicht zu verzweifeln. Im Hospiz wurde meinem Mann und mir noch eine lebenswerte Zeitspanne geschenkt. Dafür war ich so dankbar, dass ich noch zwei Jahre lang dort einmal wöchentlich ehrenamtlich gearbeitet habe. Ich habe Essen verteilt, Hände gehalten, mit Sterbenden gesprochen und mich auch für die Angehörigen interessiert. Es gibt so viele grausame Schicksale. Ich konnte sehen, dass ich nicht allein bin. Man denkt ja immer, es sind nur die Alten, die sterben. In der Zeit meiner Hospizarbeit habe ich etliche junge Männer und Frauen, die unheilbar an Krebs erkrankt waren, sterben sehen. Einige mussten, wie mein Mann, ihre Kinder zurücklassen. Ich habe mit anderen verwitweten Frauen sprechen können. Auch das hat mir geholfen, wieder nach vorne zu schauen.
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