Die Schwester öffnete noch einmal leise die Tür und fragte, ob ich etwas zu trinken möchte. Tee vielleicht. Ich verneinte und gab mich weiter meinen Erinnerungen hin. Mir fielen die vielen gemeinsamen Abendessen ein. Jede Woche hatte ich die beiden einmal zu Gast. Immer wurde kritisiert. Regelmäßig die Frage seiner Mutter: »Hält Karl dich zu kurz oder warum ist kein Schinken auf dem Tisch?« Seine Mutter saß am Tisch, als hätte sie einen Schraubstock in der Bluse. Sie aß in kleinen Häppchen, die sie lange kaute. Sie durfte immer nur eine Schnitte nehmen. Vati wollte das so. Nahm sie mal eine zweite, weil es ihr gut schmeckte, bekam sie von ihrem Mann einen Klaps auf die Finger: »Zu Hause isst du auch nur eine. Das reicht.« Sie zog die Hand zurück. Meine kleine persönliche Fehde war, dass ich ihr die Scheibe wieder auf den Teller legte und sagte: »Nimm ruhig, Mutti, ich sehe doch, dass es dir schmeckt.« Dafür erntete ich böse Blicke und Vati brachte es fertig, die Scheibe Brot wieder in den Brotkorb zu legen. »Mutti hat genug.« Mutti litt und sagte nichts. Waren wir eingeladen, wurden nur die beiden Männer gefragt: »Vati, möchtest du noch was? Und du, Karli, du hast doch bestimmt noch Hunger.« Ich als geduldete Beigabe wurde nicht gefragt. Wollte ich einmal einen Kommentar zu etwas beisteuern, kam ich nicht durch. Seine Eltern hatten Besitz von ihm ergriffen. Das wurde mit Erpressung untermauert. Wenn du das und das machst, bekommst du dies oder jenes. Es gab nichts ohne Gegenleistung. Sie mischten mehr und mehr in unserer Ehe mit.
Ich blickte auf Karls schmale Lippen. Ein Mund, der nicht gut küssen konnte. Nur futtern konnte er damit. Deshalb war Karl gedrungen wie Kommissar Thiel, der prollige Partner von Professor Boerne aus dem Münsteraner Tatort. Auch Karls Vater war klein und drall. Zwei knubbelige Ekelpakete. Beim Blick auf Karls hellblauen Schlafanzug fiel mir ein, wie wir für Karl eine Jacke eingekauft hatten. Ich fand es schrecklich, wie er sich anzog, und wollte ihm guten Geschmack beibringen. Seine Eltern klinkten sich selbstverständlich ein. Sie waren eingefleischte C&A-Gänger. Natürlich waren sie beim Einkauf und vor allem bei der Kaufentscheidung unverzichtbar. Meine Anwesenheit fanden sie eigentlich überflüssig. Mutti wühlte die Jacken durch. Hielt eine tannengrüne hoch: »Schau mal, Karli. Zieh die mal an, die hat Vati auch, die ist schön.« Da habe ich wieder einmal aufbegehrt: »Ich will nicht, dass mein Mann wie Vati herumläuft. Haltet euch raus!« Ich war richtig giftig. Sofort schnappten sie ein. Vati zog Mutti hinter sich her aus dem C&A raus und Mutti rief: »Dann seht mal zu, wo ihr eine Jacke herbekommt.« Karl hat sich dann beim 19-Uhr-Anruf bei Mutti und Vati entschuldigt und vorwurfsvoll zu mir gesagt: »Etwas Rücksicht ist wohl nicht zu viel verlangt. Wo sie sich schon die Mühe machen und mitkommen.« Ich erwiderte: »Ich möchte einen vernünftig angezogenen Mann und keinen, mit dem ich mich schämen muss. Außerdem kann ich alleine einkaufen.«
Bei uns im Haus gab es einen kleinen Fototisch. Darauf standen ausschließlich Fotos von Karl, Mutti und Vati. Die weitaus meisten von Mutti und Karl. Ich kam da nicht vor. Nicht einmal ein Hochzeitsfoto war ich wert. Karl hatte als Ingenieur ein gutes Einkommen. Aber er war die personifizierte Knickerigkeit. Ich habe mir während unserer gesamten Ehe Geld für mich persönlich dazu verdient. Ich wollte nicht betteln müssen, ob er mir Geld für eine Jacke oder ein schönes Kleid gibt. Karl betonte immer: »Meine Frau muss nicht arbeiten, die will unbedingt.« Vati und Mutti hatten kein Verständnis dafür. »Die kriegt den Hals nicht voll«, hieß es. Keiner verstand, dass ich mich auch beruflich entfalten wollte, nicht nur das Haus sauber halten und in der Küche stehen mochte. Obwohl Karl gut verdiente, bekam er regelmäßig Geld von seinen Eltern zugesteckt, die wohlhabend waren. Ich nie. Nicht einmal zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Ich bekam ausschließlich Geschmacklosigkeiten von »Nanu-Nana«. Karl sagte dann immer: »Wie aufmerksam! Freust du dich?« Er steckte noch mit 50 die Füße unter Vaters Tisch. Von den elterlichen Zuwendungen wurden teure Autos gekauft. Er reiste auch gern und da nahm er mich erstaunlicherweise mit.
Jeden Sonntag war Frühschoppen. Wenn er genug getrunken hatte, kam er nicht nach Hause. Einmal war ich außer mir und rief seine Eltern an. »Ich halte es nicht mehr aus. Ich muss ihn verlassen.« Er kam bald darauf nach Hause, um mir zu sagen: »Dann geh!« Das war mein Stellenwert für ihn.
Das alles kam hoch in der Stille. Warum nur war ich geblieben? Natürlich hatten wir auch schöne Momente. Aber die waren verschüttet. Mir fiel an seinem Totenbett und auch später bei seiner Beisetzung nichts Schönes ein. Bis heute denke ich, die Vorsehung hat ihn sterben lassen. Die Fügung war auf meiner Seite. Sie hat mich erlöst von meinen Qualen. Am Morgen kam der Bestatter und holte ihn. Die Beerdigung brachte ich hinter mich, wie es sich gehört. Sachlich, ohne viel Tamtam. Ich riss mich zusammen. Warf ein Schäufelchen Erde in sein Grab wie alle anderen, hatte weder einen Trauerredner noch Musik bestellt. Karl ist überraschend, leise und unauffällig aus meinem Leben verschwunden. Ich hatte auch noch eine Kaffeetafel organisiert. Als alle gegangen waren, ging ich allein nach Hause und duschte ausgiebig alles ab. Den ganzen Karl und was zu ihm gehörte. Danach ging ich Eis essen. Nuss-Vanille mit Sahne und Krokant-Streuseln. Mein Lieblingseis.
Sein Vater war zu dem Zeitpunkt bereits tot, seine Mutter dement. Sie lebte in der »Arche«, einer Abteilung für Demenzkranke im Altenheim. Sie erkannte mich nicht mehr. Ich wurde gut versorgt hinterlassen, abbezahltes Haus, Rente, Versicherung. Ich arbeitete alle Ordner, die mich zu seinen Lebzeiten nichts angingen, sorgfältig durch und brachte Ordnung in mein Leben. Ich machte eine Aufstellung von Einnahmen und Ausgaben und stellte fest, dass ich gut zurechtkommen würde.
Es verging kein halbes Jahr, da lernte ich meinen jetzigen Mann kennen ... Ich erlebte, was andere mit 18 erleben. Ich war bei Ikea und wollte ein Geschenk umtauschen, setzte mich hinter der Kasse noch auf eine Bank und aß ein paar Kekse. Ich fühlte mich beobachtet. Ein Mann saß mir schräg gegenüber. Nach einigen Minuten erwiderte ich seinen Blick. Er sprach mich an und mich durchströmte ein warmes Gefühl. Was für ein freundlicher, offener Mensch. Ungezwungen sprachen wir über tausend Themen. Er war so wohlwollend und so interessiert an mir, das kannte ich ja gar nicht. Als wir uns verabschiedeten, fragte er nach meiner Telefonnummer und ich gab sie ihm. Ich fuhr nach Hause und als ich meine Wohnungstür hinter mir geschlossen hatte, machte ich einen Luftsprung vor Freude und quietschte laut vor Verzückung. Dass ich das mit 65 noch erleben durfte ... ein Wunder.
Jetzt sind wir seit fünf Jahren zusammen und ich habe einen Mann, wie ich ihn mir immer gewünscht habe. Ich muss nicht kämpfen, kann mich frei entfalten, werde gehört und wir sind gesellig und fröhlich. Mein Mann ist großzügig und warmherzig, das Gegenteil von Karl, und ich danke dem lieben Gott für dieses Geschenk auf meine alten Tage.
▸ Überwindung der Trauer
Heutzutage verbringen nur noch wenige Frauen, deren Mann verstorben ist, den Rest ihres Lebens in Trauer. Zudem kommt jetzt eine Generation ins Witwenalter, die die 68er-Bewegung, die Frauenbewegung, die AKW-Bewegung mitgemacht oder zumindest erlebt hat. Eine Frauengeneration, die häufig Abitur und Studium absolviert oder einen Beruf erlernt hat, den sie auch gerne ausgeübt hat oder noch ausübt. In der Regel machen verwitwete Frauen in unserer Kultur eine Trauerphase durch, die je nach Situation bis zu einem Jahr dauern kann. Viele finden schon eher ins Leben zurück. Denn das Leben geht weiter und die Frauen ziehen sich nicht unüberschaubar lange zurück. Die weitaus meisten Frauen haben den Verlust spätestens nach einigen Monaten verarbeitet. Sie orientieren sich neu und erkennen, dass ihr Leben noch spannende Herausforderungen bereithält.
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