Sie lernte die Brüder Grimm kennen, hörte, von Sprickmann vermittelt, aus dem Göttinger Kreis die Namen Hölty, Bürger, Klopstock ehrfürchtig nennen, die ihr schon anklingend bekannt waren; sie fühlte etwas in sich selber antworten bei Höltys schwermütigen, todahnenden Gesängen, und daß Leisewitz, nachher auch Schubart, den »Räuberstoff« bewegten, führte sie immer näher Schiller zu, in Gedanken, in Rhythmen, in einem untergründigen Gefühl, das sie sicherer machte.
Stärker als die Lyrik, als die ihrer Jungmädchenweichheit verwandten Verse, packte sie, was Sprickmann ihr an Balladen zubrachte.
Er erklärte ihr vielerlei Theorien, die sie halb lächelnd, höflich zuhörend, annahm; aber das Eigentliche, das Dramatische, Erzählende, das mit einem treibenden Takt vorwärtsgepeitschte Geschehnis, das nicht bloß Ereignisse spiegelte, sondern magische Hintergründe durchscheinen ließ, fesselte sie und weckte alles, was an unterschwelliger Erinnerung in ihr war, an Gespür für Wesen und Erleben der Vorderen, an Ahnung und Vision und an Hang zum Unheimlichen, Bedrohenden, Tödlichen.
Bilder standen auf, die sie, scharf umrissen und ganz leibhaftig, in sich sah und außer sich zu schauen meinte.
O wunderliches Schlummerwachen, bist
Der zartren Nerve Fluch du oder Segen? –
’s ist eine Nacht, vom Taue wach geküßt,
Das Dunkel fühl’ ich kühl wie feinen Regen
An meine Wangen gleiten, das Gerüst
Des Vorhangs scheint sich schaukelnd zu bewegen,
Und dort das Wappen an der Decke Gips
Schwimmt sachte mit dem Schlängeln des Polyps.
Das westfälische Erbe, das schwer zu tragende eidetische Traumsehen, wurde der »zart’ren Nerve« als Fluch bewußt – und war’s nicht nur in der schlaflosen Nacht; da lebte sie mit den verschollenen, verwehten Gestalten, die in grauen Mauern umgingen, mit den Geistern, die auch der schwäbische Kerner beschworen hatte, den sie freilich nicht kannte und zu dem, als einem Bruder im Geiste, dennoch manche Wurzel in ihr hinzog … eine Welt hinter der Welt, ans Makabre streifend, ans Pathologische fast, aber mit ihrer Kraft, ihrem Humor, ihrer geschliffenen Intelligenz im Gleichgewicht gehalten: ein junges Mädchen – ganz »aus dem Rahmen gefallen«, so andersartigfremd, daß es den Ratlosen und »Befremdeten« – im eigentlichen Wortsinn – anstößig wurde und zurückstoßend.
»Spökenkiekerisch« – allenfalls die ungehobelten Bauern konnten das sein in ihrem heidnischen Aberglauben … und es dichterisch zu verklären, war töricht und verwerflich, da es damit beinahe salonfähig gemacht wurde.
Sprickmann aber fand das bedeutend, er hatte Sinn für die großartige Form, auch wo sie noch unreif war, und trieb an, lobte, statt zu modeln. Er ließ die Sagenstoffe freilich nicht auf ihrer überlieferten Form beruhen, sondern schwellte und schweifte mit und um sie und taufte sie mit goldnem Flitter.
Anton Matthias Sprickmann dichtete selber, er war unter lauter Dichtern aufgewachsen, nach seiner Pensionierung von Berlin nach Münster zurückgekommen – er war achtzigjährig und ging mühsam an einem Stock. Er hatte Jura gelehrt, aber als Annette von der Mutter an ihn verwiesen worden war, schien ihm schon selbst Leben, Dichten und Denken wie eine freundliche rosige Wolke zu verschwimmen und er traute sich nur manchmal ein scharfes Urteil, kaum noch eine Verurteilung zu. Er starb drei Jahre nach seinem Zusammentreffen mit Annette, hinterließ ihr manche freundlichen Hinweise, Anleitungen und Anregungen und eine verehrende Erinnerung, die sie kaum noch im Eigenen zu bestärken brauchte.
Die Mama suchte weiter, war sie doch überzeugt, daß Annette irgendeine andere, literarisch zuverlässige Richtlinie brauchte, andere Hilfen und Anregungen als etwa die »regelrechte« Jenny, die sich so reibungslos in die Vorstellungen der Umgebung einfügen ließ, wo es auch darauf ankam, auf die jungen Männer Eindruck zu machen, Beziehungen anzuknüpfen …
Nein, Frau von Droste wollte keine Liebelei anbahnen, keinen irgendwie gearteten Flirt möglich machen, da sie Annettens Andersart und Besonderheit als etwas Verpflichtendes empfand.
Schließlich kam sie, da die Tochter sich völlig passiv in ihre Eigenwelt verkroch, auf den jungen Privatdozenten der Philosophie, Christoph Bernhard Schlüter, der seit seinem 30. Lebensjahr allmählich erblindete.
Als Annette ihn kennenlernte, wurde von den Ärzten noch mühselig um die Erhaltung seines Augenlichts gekämpft – aber die Netzhautablösung infolge eines physikalischen Experiments in seinem achten Jahr ließ sich nicht beheben, die Sehschwäche nahm rasch zu und Schlüter warf sich, auf der Flucht vor der Verzweiflung, in eine übersteigerte mystische Frömmigkeit wie in ein heilendes Bad, ohne Kritik, ohne andere Linien auch nur zu erwägen; er war sanft und duldsam, gleichmütig gegen äußere Schläge und Bedrängnisse.
Ihn glaubte Frau von Droste als beruhigendes Gegengewicht ihrer unruhig umgetriebenen Tochter anhängen zu müssen – als wäre einer luziden Flamme durch engere Mauern und gedämpfte Schattentöne ihre Heftigkeit zu nehmen.
Schlüter wurde also eingeladen, allerdings nur zu einem Zweiergespräch mit der Mama, und das führte endlich dazu, daß er Annettes Verse zuvor lesen wollte – denn ohne die, sagte er, müsse er alle Einflußnahme ablehnen.
Es kam nun, wie es beinah zu erwarten gewesen war, zu einer heimlichen Sendung an Schlüter, heimlich, das bedeutete, ohne Nachfrage bei Annette, die also keine Auswahl treffen konnte, vielleicht sogar alles verweigert hätte.
Die Mama schickte also einiges an ihn, dem es vorgelesen wurde; aber er fand alles zu schwülstig, zu pathetisch, zu getragen und im Grunde laienhaft, und Frau von Droste, die ihre gutgemeinte Unternehmung der Tochter gestanden hatte, mußte die bittere Niederlage zugeben – eine heimliche Genugtuung verbarg sie taktvoll: Also doch nichts mit der Rechtfertigung dieses sonderlichen Gehabes, nichts mit dem Argument gegen den neugierigen Klatsch der Verwandten und Standesgenossen, keine Entschuldigung; in ähnlichen Fällen hätte man vielleicht von Krankheit gesprochen und das Absurde damit erklären können – und ähnlich wie eine Krankheit erschien ihr im Grund, wenn sie sich ehrlich selber fragte, das »Talent« des Kindes, wenn man schon so sagen wollte, das Wesensfremde, was ihre eigene Tochter da so beängstigend umtrieb.
Annette schrieb damals einen Vers, den die Mutter – glücklicherweise – nie zu sehen bekam:
So hab ich hundertmal gefühlt
Und tausendmal hab ich gesehn,
Daß nichts so hart am Herzen wühlt,
Wo seine tiefsten Adern gehn,
Als, zürne nicht!,
Die Lippen drück’
Ich sühnend auf der Lippen Rand –
Als eine liebe rasche Hand
In guten Willens Ungeschick.
Daß in diesem »Ungeschick« die eingeborene, »eingefleischte« Abneigung des Altadels gegen geistige, musische (und dabei gefürchtete) Disziplinlosigkeit steckte, wie sie seit langverschollener Zeit dem kämpferischen Ritterwesen gegenüber dem geistigen, geistlichen Stand eigen war, wurde der Mutter nicht bewußt.
Die hockenden Buchstabenknechte in den Klöstern, denen, weil sie lesen und schreiben konnten, Bildung und Gelehrsamkeit anvertraut waren, empfand man als die gegebenen Kontrastfiguren des Herrn, des Kriegers, des beweglich Einsatzfrohen, Mutigen; sie waren untergeordnete Dienstleute, die allenfalls Tradition aufschrieben und festhielten, aber nicht aus eigener Kraft schufen .
Freilich waren inzwischen die Uradeligen belesene, gebildete Leute.
Doch gab es auch solche, die sich »ritterbürtig« dünkten, ohne es eigentlich zu sein, solche, die ihre Vornehmheit durch Geist zu ersetzen glaubten, den sie besser Geistreichelei genannt hätten. –
Adelig war die Frau von Bornstedt, von der nichts anderes zu erwarten war, als daß sie sich irgendwann einmal an Annette heranmachte und sich an ihrer »Dichterei« – wie sie sagte – zu wetzen versuchte. – Eine im Grunde törichte, unbedeutende Person, die mit ihrer Beckmesserei und ohne Gefühl für Echtheit das allgemeine Urteil in den Kränzchen und Teezirkeln bestimmte und die mit ihrem Genörgel der Frau von Droste keine Ruhe ließ, ehe sie nicht noch einmal und diesmal durch die Mehrheit, ihr Urteil bestätigt sah, ihr Urteil, daß Annette ein unlogisches, willkürliches, verschwommenes Gebilde für Dichtung ausgebe, und daß sie besser schwiege.
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