Die Hände des Vaters sind magisch begabt, Magneten, mit denen er Tier und Pflanze zur Sympathie stimmt, wie er die seltenen Mineralien, die Drusen und Ammoniten und Steinlilien aufspürt unter dem Geröll und in den zerschrammten Wänden der Steinbrüche, und die Binsen und Riedgräser streift, zwischen denen die blitzenden Libellen schwirren wie fliegende Edelsteine. –
Die Mutter, zweite Frau des Freiherrn Clemens August nach einer ersten, kurzen Ehe, ist sehr nüchtern, selbstbewußt, eine tüchtige Wirtschafterin und Organisatorin und alles das, was Annette als Autorität empfindet, aber nichts Elementares, nichts Bergendes, kein Quellgrund.
Ausruhen, regenerieren, Wärme saugen – Annette ist, so wild sie sich im Austausch mit dem Gewachsenen, mit Fels und Moor und Sturm austobt, immer das zarte, unverschalte Wesen geblieben, das die Amme »mit Zucker und Kamillen« aufgepäppelt hat: Ganz offen für das Einströmende und immer gefährdet von dem Allzumächtigen, das sie bis in den Grund zittern machte. Was sie bewahrt hat, ist bloß dieser angeborene untrügliche Instinkt für das ihr Gemäße, unterstützt durch das klare Wesen der Mama.
An einem Tag, wo feucht der Wind,
Wo grau verhängt der Sonnenstrahl,
Saß Gottes hartgeprüftes Kind
Betrübt am kleinen Gartensaal.
Ihr war die Brust so matt und enge,
Ihr war das Haupt so dumpf und schwer,
Selbst um den Geist zog das Gedränge
Des Blutes Nebelflore her.
Und am Gestein ein Käfer lief,
Angstvoll und rasch wie auf der Flucht,
Barg bald im Moos sein Häuptlein tief,
Bald wieder in der Ritze Bucht.
Ein Hänfling flatterte vorbei,
Nach Futter spähend, das Insekt
Hat zuckend bei des Vogels Schrei
In ihren Ärmel sich versteckt.
Da ward ihr klar, wie nicht allein
Der Gottesfluch im Menschenbild,
Wie er in schwerer, dumpfer Pein
Im bangen Wurm, im scheuen Wild,
Im durst’gen Halme auf der Flur,
Der mit vergilbten Blättern lechzt,
In aller, aller Kreatur
Gen Himmel um Erlösung ächzt.
Wie mit dem Fluche, den erwarb
Der Erde Fürst im Paradies,
Er sein gesegnet Reich verdarb
Und seine Diener büßen ließ;
Wie durch die reinen Adern trieb
Er Tod und Moder, Pein und Zorn,
Und wie die Schuld allein ihm blieb
Und des Gewissens scharfer Dorn.
Der schläft mit ihm und der erwacht
Mit ihm an jedem jungen Tag,
Ritzt seine Träume in der Nacht
Und blutet über Tage nach.
O schwere Pein, nie unterjocht
Von tollster Lust, von keckstem Stolze,
Wenn leise, leis es nagt und pocht
Und bohrt in ihm wie Mad’ im Holze.
Wer ist so rein, daß nicht bewußt
Ein Bild ihm in der Seele Grund,
Drob er muß schlagen an die Brust
Und fühlen sich verzagt und wund?
So frevelnd wer, daß ihm nicht bleibt
Ein Wort, das er nicht kann vernehmen,
Das ihm das Blut zur Stirne treibt
Im heißen, bangen, tiefen Schämen?
Und dennoch gibt es eine Last,
Die keiner fühlt und jeder trägt,
So dunkel wie die Sünde fast
Und auch im gleichen Schoß gehegt;
Er trägt sie wie den Druck der Luft,
Vom kranken Leibe nur empfunden,
Bewußtlos, wie den Fels die Kluft,
Wie schwarze Lad’ den Todeswunden.
Das ist die Schuld des Mordes an
Der Erde Lieblichkeit und Huld,
An des Getieres dumpfem Bann
Ist es die tiefe, schwere Schuld,
Und an dem Grimm, der es beseelt,
Und an der List, die es befleckt,
Und an dem Schmerze, der es quält,
Und an dem Moder, der es deckt.
Der Sinn für das Gemäße – das ist Auswahl und Abwehr, ohne die das schallose Seelchen zugrunde ginge.
Aber doch muß so viel Einlaß gewährt werden, wie es das Überleben irgend erlaubt. Einlaß für Ströme und Stürme, die ungeformt anprallen und geformt werden wollen.
Ach, Annette weiß das schon und spürt es täglich stärker – es ist das gleiche, was die lebendige Muschel erleiden muß, wenn sie das kantige Sandkorn in immer neuen, immer schmerzhafteren Anläufen umkleidet, ohne es abweisen zu können: Formung heißt Verwandlung, Ausdeutung, bis aus dem billigen harten Splitter, gerundet und glänzend geglättet, eine Perle geworden ist, etwas so Kostbares, wie es ohne den quälenden Anstoß nicht hätte entstehen können. Vom Sandkorn weiß niemand mehr. Nur wenige wissen davon, daß ein unwertes, verworfenes Gebild mit der eigenen Substanz erst gestaltet und sinnreich werden kann. Annette läßt die alte Perlenschnur langsam durch ihre Finger laufen, ein Erbstück, mit zartem gelblichem Glanz. Ihr Vater hat ihr gezeigt, wie sich jeder der kostbaren Tropfen in Jahr und Jahren gebildet hat. Sie meint jetzt, das Geheimnis des Schönen zu erfassen und dem Schöpfer näher zu sein in einem ahnungsvollen Schauder – das ist ihr aufgetragen: Was ihr fragend und fordernd hingehalten wird, erfüllen : Was sie aufruft und manchmal anfleht, erlösen , das »Namenlose nennen«.
Dazwischen das Leben, das eigene Schicksal, das, was von außen kommt … die Muschelschale wird tanzend herumgeschleudert, im Wasser angespült, weggeschwemmt, verworfen und gehäuft mit anderen – und immer noch wächst in ihr das Gebilde, größer und größer werdend, wie ein Kind.
Ihre Sippe ist weitverzweigt, riesig verschachtelt und verfilzt, der Großvater mütterlicherseits hat ein zweites Mal geheiratet, und von dieser zweiten Frau stammt eine große Schar von Kindern, die, wenigstens die später Geborenen, in Annettes und ihrer Brüder Alter sind, Onkel, Tanten und Spielgefährten zugleich. Sie selber ist umgeben von Geschwistern, das Kind sieht die ältere Jenny als Freundin und Vorbild, den kräftigen Bruder Werner, den Erben, als Antrieb zum wilden Klettern, Wandern, Tollen – und den zarteren Ferdinand als geliebten kleinen Freund.
Mit »Nandeken« – so nennt man den Ferdinand zärtlich – verbindet sie unbewußt noch etwas anderes, eine unterschwellige Angst – die Krankheit.
Annette ist als Kind nicht eigentlich krank, aber das frühgeborene Mädchen ist trotz aller Lust am Steigen, Springen, Klettern zart und anfällig – ein hauchdünnes Gefäß, beim kleinsten Anstoß klingend wie ein Glas, mit einem sprühend-leidenschaftlichen geistigen Inhalt … Die Mama weiß das und sucht zu hemmen und zu dämmen, freilich ungeschickt und allzusehr von den Vorstellungen der Epoche und des Standes bestimmt: Wie vielen genialen Frauen beschneidet man Annette die freie Zeiteinteilung, die freie Wahl der Gefährten; Kleid und Schuh und Spielzeug und Raum sind vorgeschrieben und werden überwacht.
Der Traum von der schnurgeraden Allee kam damals aus dem Unterbewußtsein …
Sie wehrt sich energisch, aber sie hat keine logischen Argumente für ihren Widerstand, und der Vater, der sich die ihm angemessenen Formen gönnen kann, mag sie für ein Mädchen nicht gelten lassen.
Die Mama fragt ihn einmal, ob er glauben könne, daß das Kind, da es so viele knabenhafte Züge zeige, doch ein halber Sohn sei, wie sie ihn sich so glühend gewünscht hätte – körperlich ein Mädchen, seelisch-geistig so etwas wie ein Sohn –, und jedenfalls, das sagt sie sorgenvoll, das begabteste ihrer Kinder, so scharfsichtig und -sinnig, wie es sich eigentlich für ein Mädchen ihres Standes nicht schicke? Freilich zeigt sie sie gern bei Gästen, deren viele nach Hülshoff und Rüschhaus kommen, viele auch nach Bökendorf, wo die fromme Stiefgroßmutter wohnt und wohin Therese das halberwachsene Kind begleitet.
Man bewundert und beäugt das schmalgesichtige blasse Mädchen mit der Haarkrone, unter deren Fülle der schmächtige Hals schier gebeugt erscheint.
Aber man bestaunt sie doch eher wie ein Fabeltierchen, porzellanbleich und goldgekrönt, und doch befremdlich und vorsichtig zu beurteilen – einer hat später die gleiche Erfahrung gemacht, viel bitterer noch, als er schrieb: »Denen dein Wesen, wie du bist/Im Innern ein steter Vorwurf ist«, Hölderlin …
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