Zehn Minuten dauerte es, bis das Morphium zu wirken begann — zehn Minuten, die für Schwester Daniela zu einer Ewigkeit wurden. Die Kranke ließ nicht davon ab, sich gegen sie zu sträuben, stieß wüste Beschimpfungen aus.
Dann allmählich ging es vorbei. Die Stimme der Schwerkranken wurde leiser, immer häufiger fielen ihr die Augen zu, die Befreiungsversuche wurden schwächer. Aber Daniela wagte nicht sie loszulassen, bevor sie ganz eingeschlafen war.
Als sie dann endlich den schlaff gewordenen Körper der Patientin wieder betten konnte, atmete sie auf. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie war seelisch und körperlich am Ende ihrer Kräfte.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Tragweite des Geschehens begriff. Sie hatte sich nicht geirrt, Irene Spielmann hatte von Haralds Liebe zu ihr erfahren. Deshalb war sie wie eine Wahnsinnige mit dem Auto durch die abendlichen Straßen gebraust. Vielleicht hatte sie sogar bewußt den Tod gesucht. Und sie — Daniela — war schuld.
Ohne ganz zu wissen, was sie tat, verließ Schwester Daniela das Krankenzimmer. Sie bewegte sich auf eine seltsam gleitende, automatische Art wie eine Nachtwandlerin. Im Schwesternzimmer brach sie zusammen.
Kurz vor Mitternacht kam Dr. Wörgel. Er sah blaß und übernächtig aus. »Ich wäre schon eher gekommen«, sagte er fast entschuldigend, »aber es war allerhand los heute nacht!«
»Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee machen?« fragte Daniela.
Er sah sie überrascht an. »Wahrhaftig? Das ist aber mal nett von Ihnen!«
Daniela zögerte einen Augenblick, dann sagte sie: »Ich brauche Ihren Rat, Herr Doktor!«
»Können Sie haben. Um was geht es?«
»Es ist... ziemlich schlimm.« Daniela wußte nicht, wie sie anfangen sollte.
»Hängt es mit Irene Spielmann zusammen?«
»Ja!« sagte Daniela erstaunt. »Woher wissen Sie?«
»Ich habe so meine kleinen Beobachtungen gemacht. Natürlich ist es auch durchaus möglich, daß ich mich getäuscht habe. Sie kennen diese Frau also doch?«
»Nein, Herr Doktor. Ich habe Sie nicht belogen. Ich habe Frau Spielmann das erstemal gesehen, als sie schon im Wachzimmer lag. Aber ... ich kenne ihren Mann.« Sie schwieg.
Dr. Wörgel zündete sich, ohne sie anzusehen, eine Zigarette an. »Reden Sie weiter«, sagte er mit einer Gelassenheit, die erzwungen klang.
»Ich habe nicht gewußt, daß er verheiratet ist«, sagte Daniela. »Sie müssen mir glauben, daß ich es nicht gewußt habe!«
»Was weiter?« fragte er kühl.
»Nun jetzt... begreifen Sie denn nicht, daß ich in einen entsetzlichen Konflikt geraten bin?« sagte sie verzweifelt.
»Wollen Sie sagen, daß Sie sich nicht imstande fühlen, ihre Rivalin zu pflegen?«
»Herr Doktor!« Warmes Rot schoß Schwester Daniela in die Wangen.
»Tut mir leid, wenn ich Sie verletzt habe.«
Schwester Daniela holte tief Luft, zwang sich zur Ruhe. »Schon gut«, sagte sie mit einem gequälten Lächeln, »schweigen wir darüber.«
Sie trat zu dem elektrischen Kocher, nahm den Deckel vom Topf. »Das Wasser kocht gleich, in ein paar Minuten haben Sie Ihren Kaffee!«
»War das alles, was Sie mir sagen wollten?«
Daniela sah ihn mit einem großen Blick ihrer sehr dunkelblauen Augen an. »Nein, ich fürchte, es ist sinnlos!«
»Warum?«
»Sie wissen es. Warum fragen Sie also. Ich ... sehen Sie, Herr Doktor, ich stehe ganz allein auf der Welt. Außer meiner kleinen Tochter habe ich niemanden, und Eva ist jetzt erst fünf Jahre alt. Ich sage Ihnen das, damit Sie mir verzeihen, daß ich Sie mit meinen Sorgen belästigen wollte.«
»Sie glauben, daß ich Sie nicht verstehen kann, nicht wahr? Aber Sie irren sich, Schwester Daniela ... ich kann alles nur zu gut verstehen. Aber ... Sie müssen sich auch in meine Lage versetzen. Ich hätte niemals geglaubt, daß ausgerechnet Sie ...«
»Ich habe Harald Spielmann geliebt«, sagte Schwester Daniela mit fester Stimme.
»Verzeihen Sie!« Dr. Wörgel strich sich nervös mit der Hand über die Stirn. »Ich weiß, ich bin ungerecht... wahrscheinlich kommt es nur daher, daß ich mich erschöpft fühle. Dies scheint mir wirklich keine günstige Stunde für ein ernsthaftes Gespräch zu sein.«
»Aber Sie müssen es wissen!« sagte Daniela mit plötzlichem Entschluß. »Es geht Sie an. Nicht nur als Mensch, sondern als Arzt! Die Patientin hat mich erkannt!«
»Was?«
»Ja. Sie weiß, wer ich bin!«
»Daniela!« Tiefe Enttäuschung klang aus Dr. Wörgels Stimme. »Sie haben doch eben behauptet, Sie hätten gar nicht gewußt...«
»Das stimmt auch. Ich hatte keine Ahnung, daß er verheiratet war. Begreifen Sie doch ...«
»Nein, das kann ich nicht. Was Sie mir da erzählen, klingt absolut konfus und unglaublich! Woher soll die Patientin denn wissen, daß Sie ... nein, Daniela, bei allem Verständnis, das kann ich Ihnen nicht glauben.«
»Ich habe es ihr gesagt!«
Dr. Wörgel sah Schwester Daniela mit einem seltsamen Blick an.
Es schien, als wenn er etwas sagen wollte, dann aber biß er sich nur auf die Lippen.
Sie wandte sich von ihm ab, um ihm Gelegenheit zu geben, mit ihrer Mitteilung fertig zu werden.
Das Wasser kochte, sie spülte die Kanne heiß aus, tat ein paar Löffel Kaffeepulver hinein, schüttete Wasser auf. Sie stellte eine Tasse für Dr. Wörgel und eine für sich selber auf den Schreibtisch, eine Schale Zucker und ein Döschen Kondensmilch dazu.
»Wollen wir uns nicht setzen?« fragte sie und zog sich einen Stuhl heran. »Trinken Sie, bitte, Herr Doktor.«
Er trat näher, blieb aber dann, anstatt sich zu setzen, nahe bei ihr stehen, starrte sie an. Die Hände auf dem Rücken, fragte er: »Warum haben Sie das getan?«
»Weil ich es wissen mußte«, sagte sie. »Ob die Patientin von den Beziehungen ihres Mannes zu mir etwas ahnte ... verstehen Sie denn nicht, daß das ungeheuer wichtig für mich war?«
»Sind Sie sicher, daß sie Sie überhaupt verstanden hat?«
»O ja! Deshalb erzähle ich Ihnen ja alles. Weil ich meine, daß Sie es wissen müßten ... Sie als Arzt. Die Patientin hat mich verstanden, sie hat reagiert.«
»In welcher Form?«
»Sie hat zu mir gesprochen!« Mit einem gequälten Lächeln fügte Daniela hinzu: »Genauer gesagt... geschrien!«
Dr. Wörgel ließ die Kaffeetasse unberührt stehen. Er begann mit heftigen Schritten in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen. »Sie wissen hoffentlich, daß Ihr Vorgehen unverantwortlich war!« sagte er scharf. »Als Krankenschwester haben Sie die Pflicht, die Ihnen anvertrauten Patienten zu pflegen, nicht aber ... sie mutwillig aufzuregen! Ich muß jetzt sofort...« Er ging zur Tür.
Schwester Daniela stand auf. »Wohin wollen Sie?«
»Zu der Patientin natürlich!«
»Nicht nötig. Ich habe ihr eine Morphiumspritze gegeben.« Als sie seinen erstaunten, fast kalten Blick sah, fügte sie hinzu: »Ich mußte es tun. Sie ... sie wurde tätlich.«
»Eine feine Geschichte. Das haben Sie wahrhaftig großartig gemacht! Wie, glauben Sie nun, soll es weitergehen?«
»Ich möchte kündigen«, sagte Schwester Daniela mit steifen Lippen.
»Fliehen also! Sich der Verantwortung entziehen? Na, ich kann Sie nur warnen! Das wird ein feines Zeugnis, das Ihnen die Krankenhausleitung dafür geben muß!«
»Ich habe nicht vor, länger als Schwester zu arbeiten.«
»Nun hören Sie mal, finden Sie nicht auch, daß Sie jetzt ein bißchen übertreiben?«
»Nein. Ich weiß genau, was ich tue.«
»Schwester Daniela ... es scheint, Sie haben mich falsch verstanden! Möglicherweise bin ich zu grob mit Ihnen gewesen ... das sollte mir leid tun ...«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Herr Doktor ... eigentlich stand mein Entschluß schon fest, bevor ich mit Ihnen gesprochen habe!«
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