Alain und Martine waren mitgekommen, und am Tisch warteten Fafa und Robert. Bei einem netten Essen wollten wir über eine Wohnung reden. In Alains Wohnung wurde es doch etwas eng, und ich brauchte Luftveränderung. Ehe wir uns setzten, wurde vorgestellt und nach rechts und links herumgeküßt. Das war eine Sitte, an die ich mich noch immer nicht gewöhnt hatte. Jetzt war Helle diejenige, die der unmäßigen französischen Küsserei ausgesetzt wurde. Alain, der wie üblich mit irgendeinem Bekannten ins Gespräch gekommen war, kam dazu, und wir konnten bestellen. Fafa und Robert sprachen gut Englisch, deshalb hatte unser Mundwerk keine Ruhe. Das Essen war wunderbar, der eisgekühlte Rotwein ebenso. Die Regale vor den Restaurantwänden quollen vor Weinflaschen geradezu über. Die vielen Flaschen verstärkten das Glühen des Kaminfeuers, und sanfte italienische Musik im Hintergrund kündigte einen heißen Abend an.
Am nächsten Tag zogen wir bei Fafa und Robert ein. Wir lebten beide aus dem Koffer, und deshalb hatten wir den Umzug rasch hinter uns gebracht. Unser Weg führte uns vom Stadtrand ins Herz von Paris. Das Stadtviertel Les Halles war eine Gegend, wo alt und neu einander begegneten. Die alten Markthallen waren abgerissen und durch ein modernes Einkaufszentrum ersetzt worden. Von außen machte das nicht viel her, doch drinnen führte eine Treppe zu einer dreistöckigen Einkaufsmeile. Bei den oberen Treppen und Terrassenanlagen schossen neue Wohnkomplexe in die Höhe, keiner jedoch höher als sechs Stock. Helle Betonfassaden und jede Menge Glas, es sah wirklich nicht schlecht aus. Die vielen engen Straßen und Gassen mit ihren alten Häusern bohrten sich wie Keile in die Plätze und vertraten das Paris, das wir aus Geschichtsbüchern kannten. Die meisten Straßen waren für Autos gesperrt, trotzdem herrschte ein lebhafter Verkehr. Trotz ihrer weltberühmten Metro schwirrten Franzosen und Französinnen lieber mit dem Auto durch die Gegend, und die Stadt war ein einziges Verkehrschaos. Die Pariser waren Weltmeister in unmöglichem und verbotenem Parken. Was ihre Autos anging, so kannten sie keine Hemmungen. Sie parkten munter auf dem Bürgersteig, vor Hydranten, in Zweierreihen und mitten auf der Fahrbahn, falls sich das als notwendig erwies. Ein Heer aus Polizisten und Politessen gab sich alle Mühe, die Autofahrer in Schach zu halten, und überall sah man Autos mit blockierten Reifen.
Fafa und Robert wohnten dicht beim Forum des Halles. Ganz oben, in zwei Stockwerken mit umwerfendem Ausblick auf Paris. Die Wohnung war riesengroß und elegant eingerichtet. Sie hatten zwei Töchter, die fünfzehnjährige Emanuelle und die siebzehnjährige Isabella. Zwei tolle Mädels, die die Jungs im Hamdumdrehen ins Koma jagen konnten. Während Isabella in Dijon Ferien machte, besetzten Helle und ich ihr Zimmer.
Die Zeit mit meiner Liebsten verging natürlich zu schnell. Abends gingen wir ins Restaurant, tagsüber spielten wir in der Innenstadt Touristen. Vor allem die vielen Warenhäuser wurden für uns ein tägliches Ziel. Wie die meisten in Paris losgelassenen Frauen war Helle in Ekstase. Parfüm, freche Unterwäsche und luxuriöse Oberbekleidung waren unwiderstehlich.
Helle konnte sich kaum daran gewöhnen, daß wir einfach sorglos durch die Stadt schlendern konnten. Polizei war ansonsten mehr als genug vorhanden. Neben den Zivilbullen, die nicht immer leicht zu entdecken waren, wimmelte es nur so von Uniformierten. Sie erinnerten mich an die Comics von Tim und Struppi, und vielleicht konnte ich sie deshalb nicht ernst nehmen. Aber auch Paris hatte seine Unruhe-Polizei. Die lungerte auf den Straßen herum, neben Bussen, die als rollende Wachen fungierten. Vor allem in den Arabervierteln sah man sie schockweise. Sie waren immer mindestens zu fünft. Gewandet in Reitstiefel und blaue Overalls und immer bis an die Zähne bewaffnet mit Maschinenpistole, Revolver und Gummiknüppel.
Ehe Helle nach Hause fuhr, schmiedeten wir Zukunftspläne. Sie war verrückt nach Frankreich und hoffte, daß ich dort bleiben könnte. Zumindest in Südfrankreich, wenn die Großstadt sich als zu gefährlich erwies. Ich erzählte, daß ich früher oder später weiterziehen müßte. Frankreich lag zu dicht an Dänemark, wenn ich ein normales Leben führen und auf freiem Fuß bleiben wollte.
Noch näher an Dänemark lag Deutschland, und hier braute sich eine wilde Auseinandersetzung zwischen der Staatsmacht der BRD und dem Hells Angels MC Hamburg zusammen. Anderthalb Jahre zuvor waren sämtliche Mitglieder, außer denen, die sich gerade in den USA aufhielten, festgenommen und ins Gefängnis gesteckt worden. Die Ermittlungen in Hamburg hatten vorher siebzehn Monate in Anspruch genommen. Über hundert Personen waren in der ganzen Bundesrepublik verhaftet worden, unter ihnen auch viele Familienmitglieder und Ol’ladies. Die meisten waren einen Tag später wieder auf freien Fuß gesetzt worden, anderen war das in den folgenden Monaten passiert. Aber da hatte diese Riesenrazzia in der Bevölkerung schon ihre Spuren hinterlassen.
Jetzt – anderthalb Jahre später – saßen nur die sechzehn Hamburger Mitglieder auf der Anklagebank. Einigen wurden ganz normale Vergehen wie Körperverletzung, Zuhälterei, Erpressung und unbefugter Waffenbesitz zur Last gelegt. Die anderen standen aufgrund von Paragraph 129 des bundesdeutschen Strafgesetzes (dem Terrorismusparagraphen) unter Anklage. Angeblich gehörten sie einer kriminellen Vereinigung an. Keiner hatte ein Gesetz gebrochen, doch sie galten sozusagen als Mitschuldige, da sie Mitglieder des Hells Angels MC Hamburg waren. Einige Monate nach den Massenverhaftungen hatte der bundesdeutsche Innenminister in seinem Frust darüber, daß die Sache nicht weiterkam, den Hells Angels MC Hamburg verboten. Das Verbot wurde von vielen Juristen für unhaltbar befunden, galt jedoch bis auf weiteres. Die Lage war gelinde gesagt grotesk. Es war nicht die Rede von Gesetz und Ordnung, sondern davon, Hamburgs oberstem Polizeichef ein paar politische Punkte zu sichern. Außerdem war der Innenminister zu weit gegangen, und jetzt stand sein Prestige auf dem Spiel. Der Staat wollte um nichts in der Welt sein Gesicht verlieren, und deshalb war ein Riesenzirkus auf die Beine gestellt worden, an dem die bundesdeutsche Presse sich munter beteiligte. Da es um die entsetzlichen HA-Leute ging, war das Gericht für eine Million Kronen umgebaut worden. Kugelsichere Glaswände waren eingezogen worden, obwohl der schwerstwiegende Anklagepunkt der einer Wirtshausschlägerei war.
Aus fast ganz Europa strömten Brüder zusammen, um den Prozeß zu verfolgen, zusammen mit Brüdern vom anderen deutschen HA-Chapter in Stuttgart. Das Innenministerium und die Hamburger Polizei argumentierten, die Motorradfahrerei sei nur eine Tarnung, in deren Schutz die Mitglieder sich ihren kriminellen Aktivitäten widmen könnten . Daß hier unverschämt gelogen wurde, war das eine. Etwas anderes war, daß diese Behauptungen einfach unlogisch waren. Welche kriminelle Organisation würde denn etwas so Auffälliges wie Motorräder und Rückenpatches benutzen? Wenn die Mitglieder des Hells Angels MC Hamburg wirklich auf das große Geld aus gewesen wären, dann hätten sie als erstes natürlich die Bikes und die Westen an den Nagel gehängt.
Ehe der Prozeß richtig in Gang kam, wurde er wieder abgeblasen. Die Behörden hatten sorgfältig Schöffen ausgesucht, die ihnen in den Kram paßten. Die Verteidiger protestierten energisch und konnten die Richter überzeugen. Die Schöffen wurden für befangen erklärt und die Verhandlung wurde ausgesetzt. Das Verbot des Hells Angels MC Hamburg galt bis auf weiteres.
Bis dann«, rief ich hinter Isabella her. Sie drehte sich um und winkte. Roberts Tochter mußte zur Schule, und ich war früh aufgestanden, um ein wenig Kondition in meinen schlaffen Teigleib zu prügeln. Einer meiner Brüder war Europameister im Kickboxen, er leitete eine entsprechende Schule und hatte mich zwei Wochen zuvor zum Training mitgenommen. Ich hatte fast zehn Tage gebraucht, um mich wieder richtig bewegen zu können, und daran mußte ich etwas ändern.
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