Stig Dalager - Das Labyrinth

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Sieben Jahre nach ihrer Trennung treffen im Herbst 1993 Sine und ihr tot geglaubter Geliebter, der junge Rechtsanwalt Jon Bæksgaard, unvermittelt in Wien wieder aufeinander. Jon ist von New York nach Österreich gekommen, um in Zusammenarbeit mit Simon Wiesenthal den NS-Kriegsverbrecher Jürgen Menken ausfindig zu machen, der unerkannt mit seiner Frau in der Stadt lebt. In Österreich scheint unterdessen der Aufstieg des Rechtspopulismus unaufhaltsam, und eine rätselhafte Serie von Briefbombenattentaten hält die Öffentlichkeit in Atem. Der dänische Star-Autor Stig Dalager verwebt in seinen packenden Polizeithriller «Das Labyrinth» neben Zeitgeschichtlichem auch längst vergessen Geglaubtes, das in Traumsequenzen an die Oberfläche tritt. Spannend und hochpolitisch kreist er um essenzielle Fragestellungen von Vergangenheit und Gegenwart, erzählt aber vor allem von den Irrwegen und Wagnissen eines Mannes auf der Suche nach seiner Bestimmung. Der schwedische Kritiker Lars Olof Franzén bezeichnete die Hauptfigur Jon als «den Odysseus unserer Zeit», und tatsächlich bindet Dalager Reminiszenzen an den griechischen Mythos von Theseus und dem Minotaurus in Knossos in sein Labyrinth ein. Der Frage, wie viel Mensch und wie viel Bestie in ihm steckt, muss sich schließlich auch Jon stellen … PRESSESTIMMEN"Ein brillanter politischer Thriller, der beste Roman, den Dalager je geschrieben hat." – Ålborg StiftstidendeAUTORENPORTRÄTStig Dalager wurde 1952 in Frederiksberg, Dänemark geboren. Die Eltern waren Lebensmittelhändler. Er studierte Vergleichende Litteraturwissenschaft an der Universität in Aarhus, wo er seinen MD und einen PhD machte. Er hat in Leipzig, New York und Wien gewohnt, aber heute lebt er in Brønshøj in der Nähe von Kopenhagen. Im Lauf seine lange Karriere, hat er mehr als 50 Werke geschrieben, und er gehört zu den bekanntesten Schriftstellern und Bühneautoren in Dänemark.-

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Stig Dal­ager

Selbst da das Jahr nun kam im kreisenden

Laufe der Zeiten,

Da ihm die Götter bestimmt, gen Ithaka

wiederzukehren,

Hatte der Held noch nicht vollendet die

müdende Laufbahn.

Auch bei den Seinigen nicht.

Homer, Odyssee,

in der Übertragung von

Johann Heinrich Voß

Prolog

Zu spät oder zu früh oder zur rechten Zeit zum Labyrinth zu gelangen, das ist die Frage.

Hier kommt jetzt der Autor mit seinem Ich und all seinen anderen offenen Fragen an einem Maitag in Kopenhagen an, als sich die Sonne im funkenschlagenden Aufblitzen an einem schwachen bläulich-weißen Himmel zeigt, der mehr verbirgt, als er offenbart. Der größte Teil des Universums ist hinter diesem Himmel verborgen, und doch existiert es mit seinen Milliarden von Sternen, schwarzen Löchern, Planeten, Monden, Sonnen und Erdkugeln. Es ist anregend und bedrückend zugleich, wie wenig wir davon verstehen, aber an den Städten und Menschen des Erdballs halten wir in unserer Einbildung fest, bis wir entdecken, dass Menschen nicht nur Raumpiloten sind mit Sternenstaub in den Genen, sondern als lebende Fossile auch den Abdruck des Universums hinter der schützenden Haut des Stirnlappens tragen. Ist das Universum ein erst schwach kartografiertes Labyrinth, was ist dann mit den unendlichen Irrgängen im hirngekrönten Schloss von Bewusstsein und Unbewusstem? Welche Sterne und welche Gänge werden uns dazu führen, die Bewegung der einen Hand zur anderen Hand zu verstehen, welche schwarzen Löcher heben die Faust zum Schlag, was bringt Menschen dazu, sich zu versammeln und zur Masse zu werden? Was bringt eine Person dazu, zu verschwinden und wieder aufzutauchen?

Beginnen wir die Reise.

Anfang Januar 1986 machte Jon Bæksgaard Ernst mit seinen Plänen, nach Mérida in Mexiko zu gehen, um sein irdisches Paradies zu finden; bei seiner Abreise aus dem klammen Zimmer an der Lower East Side in New York ließ er eine Plastiktüte mit abgetragenen Kleidungsstücken zurück, die er nicht mehr brauchte (in Wirklichkeit hatte er vergessen, sie wegzuwerfen); diese Plastiktüte wurde von einem unterbezahlten fünfundzwanzigjährigen Putzmann gefunden, der sie für sich auf die Seite schaffte; er wohnte in einem Block in einer kleinen Straße in Brooklyn und nahm am selben Tag seinen bescheidenen Fang mit über die Brücke. Zwei Tage später stand er – wie so oft zuvor – auf der Straße, wenigstens aber hatte er das Geld von dem Job und die Sachen aus der Tüte, die ihm zu seinem Glück einigermaßen passten.

Joe Fender, der aus einem kleinen Ort in Missouri stammte und in der Hoffnung nach New York gegangen war, dort ein gelbes Taxi zu fahren, war praktisch obdachlos, und da er wieder einmal weder Arbeit hatte und Geld nur noch für die nächsten drei, vier Tage, wurde er nach einer Woche aus seinem stickigen Zimmer geworfen und stand wieder auf der Straße.

Er ging zum zwölften Mal in zwei Jahren in das beeindruckende Büro der N.Y.C. Taxis, um nach Arbeit zu fragen, wurde aber wieder abgewiesen, weil er keinen City-Führerschein hatte und es sich nicht leisten konnte, einen zu machen. Am nächsten Tag war er wieder da und flehte die Gesellschaft an, ihm das Geld für einen Führerschein vorzustrecken. Weil er aber überhaupt keine Garantien bieten konnte, musste er wieder abziehen.

Die ersten beiden Nächte verbrachte er in einer der wenigen überfüllten Herbergen der Stadt, zusammen mit verdreckten und nach Schnaps stinkenden Asphaltwracks und still für sich schlafenden Einzelgängern, aber als ihm hier seine Ausweispapiere gestohlen wurden, hatte er nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder ging er nach Missouri zurück zu dem, was von seiner Familie noch übrig war, oder er ging unter die Erde, zu den versprengten Obdachlosen in die frostige Finsternis der Subwaytunnel. Um zurückzufahren, brauchte er Geld, und um sich Geld zu beschaffen, brauchte er einen Job, doch für einen Job brauchte er eine Adresse und einen Schlafplatz und etwas zu essen; er stank schon und war im Laufe einer Woche so heruntergekommen und geschwächt, dass ihn keiner nehmen wollte, weder als Tellerwäscher oder Abräumer noch als Liftboy, obwohl er mit einer verzweifelten Beharrlichkeit tat, was er konnte, um auf seinem Weg durch das Wirrwarr der großen Stadt aus Seitenstraßenhotels, Coffeeshops, Pizzerias und Bars wen auch immer vom Gegenteil zu überzeugen; gerade die Verzweiflung in seinen Körperbewegungen und Augen gab den Ausschlag in einer dschungelartigen Stadt, wo man den anderen blitzschnell scharf taxierte und von ihm zumindest erwartete, dass er einem irgendetwas vormachte.

Joe Fender konnte sich weder besonders gut verstellen noch sich smart geben, er hatte nur seine countryartige Energie, und als die fast aufgebraucht war auf seinen mehrwöchigen Betteltouren in der eisigen Winterluft der Fifth Avenue und durch das Viertel in Brooklyn, das er am besten kannte, da beschloss er, dem Ganzen ein Ende zu machen. Das heißt, beschließen ist zu viel gesagt, er hatte das Gefühl, er habe keine Wahl, er fror ganz höllisch, und wenn man friert, kann man nicht klar denken. Das Einzige, woran eine verfrorene Seele in einem unterkühlten Körper denken kann, ist ein Dach über dem Kopf, und kommt sie weit genug von der Bahn ab, die gewisse starke Träume ihr in ihrem eher kindlichen Zustand vorgeschrieben haben, erreicht sie den Punkt, wo selbst der Tod Erlösung bedeutet. Die meisten stellen sich die Hölle warm vor, doch Joe Fender wusste instinktiv, dass die Hölle kalt ist, von brennender Kälte, so instinktiv suchte er die Wärme auf der anderen Seite.

Er kannte den Weg. Eine seiner wenigen Bekannten, ein Mädchen namens Lucy Farry, das er in Brooklyn genau an dem Januartag auf der Straße traf, als er sich ein Zimmer mietete, hatte er schon am nächsten Abend auf sein Zimmer mitgenommen, hier übernachtete sie auf seiner einfachen Matratze, während er sie in den Armen hielt; sie schwitzte den größten Teil der Nacht und zitterte am ganzen mageren, weißen Körper, manchmal rief sie nach Wasser oder ihrer Mutter oder nach Stoff, erst gegen Morgen, als das bleiche Winterlicht in das Zimmer drang, sah er die vielen blauen Male an ihren Armen und Beinen und wusste nicht, was er mit ihr anfangen sollte; an diesem Tag hatte er einen Putzjob in Alphabet City und musste sie allein lassen. Sie schlief, er stellte ihr eine Tasse Wasser hin, deckte sie mit der rauen Bettdecke zu und ging zur Arbeit, aber als er am Nachmittag desselben Tages zurückkam, war sie verschwunden.

Einige Tage später tauchte sie plötzlich auf und war auf Speed und faselte was von einer Aussicht, die sie ihm unbedingt zeigen wolle, ohne zu fragen, nahm sie seine Hand und führte ihn durch die Straßen in ein verfallenes Hochhaus in der Coney Island Avenue, wo ein zeitungslesender Wachmann von ihnen kaum Notiz nahm. Sie fuhren mit dem knackenden Fahrstuhl bis zur obersten Etage, und sie führte ihn über eine kleine Treppe auf das Dach. Vom Sternenhimmel ebenso wie von den pulsierenden Lichtern Manhattans überwältigt, hielten sie einander einen Augenblick an der Hand, dann ließ sie seine Hand los und ging durch ein kaputtes Gitter ganz nach vorn zur Dachkante und begann, darauf zu balancieren.

– Heute Abend tanze ich wie ein Engel, rief sie hysterisch dem geschockten Joe Fender zu, der sie sofort von der Kante wegriss und weiter aufs Dach führte. Doch sie sträubte sich und befreite sich aus seinem Griff und lief zur Kante, er ihr hinterher, bekam sie wieder zu fassen, sie stolperten über ihre eigenen Beine und rollten in enger Umarmung herum; sie landete auf dem Rücken, den Kopf über der Kante, und er über ihr, einige Sekunden lang starrte er an ihrem Gesicht vorbei in den Schacht unter ihnen, dann konnte er sie wieder aufs Dach zurückziehen, er hielt sie jetzt ganz fest und begleitete sie zurück zum Aufgang und dem Fahrstuhl.

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