Ernst Helm
Saga
Der Flibustierkapitän
Copyright © 1936, 2018 Ernst Helm und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711517925
1. Ebook-Auflage, 2018
Format: EPUB 3.0
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Vor dem gewaltigen Häuserblock der Ostindischen Kompanie „I‘Oost Indisch Huys“ stand an einem schönen Sommertag des Jahres 1663 ein junger Mann und schaute mit weit aufgerissenen Augen und offenem Munde dem lebhaften Treiben zu. Viele Menschen gingen aus und ein, mit Gütern beladene Gespanne fuhren durch die breiten Tore und kamen mit Kisten und Ballen wieder heraus. In den Lagerschuppen duftete es nach köstlichen Gewürzen, Kakao, Ingwer, Tabak und vielen anderen überseeischen Dingen. Am langgestreckten Kai lagen die Handelsschiffe vertäut, und unablässig eilten Menschen über die Laufstege. Da wurden Ladungen gelöscht und an Bord genommen.
Seltsame Namen trugen diese Segler: Glaube, Liebe, Hoffnung, Treue, Zuversicht usw. usw.
Gemächlich trottete der junge Mann zwischen den Laderampen des riesigen Speichers und der Hafenanlage dahin, dann umschritt er das Hauptgebäude, in dem die Herren der Direktion hausten, wanderte um das ganze Geviert der zwei- und dreistöckigen Kontor- und Lagerhäuser, bis er schliesslich wieder dort stand, wo er seinen Rundgang angetreten hatte.
Durch den breiten Torbogen gingen schwatzend eine Anzahl Männer. Wie von einer geheimnisvollen Macht getrieben, schloss er sich den Leuten an. Sie überquerten einen weiten Hofraum, der nach der Rückseite des Hauptgebäudes führte. Durch mächtige, breite Fensterflügel sah er viele Menschen vor hohen Pulten stehen, die mit Büchern und Schriftstücken bedeckt waren. Ohne eigentlich zu wissen, was er dort wollte, lediglich von einer ihm selbst unerklärlichen Neugierde getrieben, ging er die wenigen Stufen hinauf, zu einer Tür, auf der in grossen Schriftzügen „Hauptkontor“ zu lesen stand.
Sie wurde mit einem Male hastig geöffnet, dass er einen unsanften Stoss vor den Kopf erhielt. „Entschuldigen Sie bikke“, hörte er eine höfliche Stimme sagen, gleichzeitig fühlte er sich sanft in den Raum geschoben. „Der Herr dort wird Ihnen den gewünschten Bescheid geben.“
Alles kam ihm unwirklich vor, und noch hatte er sich nicht von seinem Schrecken erholt, als auch schon die Frage an ihn gerichtet wurde: „Sie wünschen?“
Ja, wüsste er nur selbst, was er hier wollte! All das Neue, Grosse nahm ihm den Atem.
Der Mann jenseits der Schranke lächelte. „Sie wollen wohl gern nach Übersee und Ihnen fehlt das Reisegeld?“
Ein hilfloses Kopfnicken.
„Nehmen Sie Platz.“
Da sass nun der Junge, und hinreichend Zeit wurde ihm gelassen, über das Geschehene nachzudenken. Ihm war im Kopf ganz dumm von all den vielen Eindrücken, die er in dieser gewaltigen Handelsstadt bekommen hatte, und deren Höhepunkt für ihn die stolzen Bauten der Ostindischen Kompanie mit ihrem buntbewegten Leben bildeten.
Arbeit zu suchen, war er nach Amsterdam gegangen; doch über das weite Meer zu fahren, daran würde er nie zu denken gewagt haben. Na, schliesslich konnte es ihm gleich bleiben, wo es etwas für ihn zu tun gab. — Es sollte wohl so sein!
Endlich ward er aus seinen Träumereien herausgerissen. Ein Bedienter nahte und forderte ihn auf, zu folgen. Sie schritten über Stockwerke, treppauf, treppab, durch lange Gänge, bis sie schliesslich das Privatbüro des Direktors Corneelsen erreichten.
Der Gewaltige thronte in einem geradezu fürstlich ausgestatteten Raum. Im Mundwinkel hielt er eine Meerschaumpfeife, aus der dicke Rauchwolken zur kostbaren, getäfelten Decke stiegen. Er warf einen flüchtigen Blick auf seinen Besucher, der in einfacher, aber sauberer Kleidung bescheiden im äussersten Winkel des Zimmers stand.
„Sie also möchten die Wunder Indiens schauen und dort drüben Ihr Glück versuchen?“
Ein schüchternes „Ja“ war die Antwort.
„Wie heissen Sie?“
„Piet Witt.“
„Und woher kommen Sie?“
„Aus Maartensdijk.“
„Also Binnenländer. — Was sind Ihre Eltern?“
„Vater war Kantor, starb aber vor einer Woche. Mutter ist schon seit vielen Jahren tot.“
„Haben Sie sonst keine Verwandten?“
„Nein.“
„Am so besser. — Seit wann sind Sie in Amsterdam?“
„Heute früh bin ich hier angekommen.“
„Können Sie lesen und schreiben?“
„Jawohl.“
„Besitzen Sie Sprachkennknisse?“
„Englisch. Vater ist einige Jahre in London gewesen.“
„Sehr gut. — Also hören Sie: nach Ostindien ist jeder Platz besetzt; aber ein Schiff unserer Schwesterfirma, der Westindischen Kompanie, sticht heute abend nach Curaçao in See. Wenn Sie sich verpflichten, drei Jahre für unsere Gesellschaft oder nach ihrer Verfügung tätig zu sein, so stehen Sie von dieser Stunde an unter unserer Obhut und werden sofort an Bord gebracht.“
Piet glaubte zu träumen. — Ein Vertrag wurde ihm vorgelegt, er setzte seinen Namen darunter, dann zog der Direktor an einer Klingelschnur, und gleich darauf erschien ein junger Mann und ging mit ihm zum Hafen.
Viele hundert Masten ragten dort zum Himmel empor. Beide bestiegen eine Jolle, und der Begleiter ruderte mit sicherer Hand durch die zahllosen Fahrzeuge zu einem Zweimaster, der ausserhalb der Bucht vor Anker lag.
Es war ein lustiges Bild! Das grosse Schiff, umgeben von vielen Schuten, deren Inhalt auf Deck gewunden wurde, erinnerte an eine von ihren Kücken umgebene Henne.
Über Säcke, Kisten, Kasten und aufgestapelte Lebensmittel mussten sich die beiden ihren Weg bahnen, bevor sie längsseits der Kogge „Die frohe Botschaft“ gelangen konnten. Dann galt es, eine schwankende Hanfleiter hinaufzuklimmen, bis endlich das Ziel erreicht war.
Kaum hatte der Kapitän einen kurzen Blick auf den Vertrag geworfen, als es auch schon an die Arbeit gehen hiess. Harte, ungewohnte Arbeit! Aber Piet Witt aus Maartensdijk hatte keine Wahl; denn er war kein freier Mann mehr, sondern ein auf drei Jahre Gedungener, mit dem die Gesellschaft während dieser Frist tun und lassen konnte, was sie wollte.
„Die frohe Botschaft“ war ein alter Kasten, vollgepfropft mit Menschen und Gütern aller Art. Nur der Kapitän verfügte über eine Kabine, Mannschaften und Fahrgäste mochten sehen, wo sie in ihrer Freizeit blieben und wo sie nachts ein Plätzchen zum Schlafen fanden.
In den ersten drei Wochen stürmte es Tag für Tag. Die Menschen an Bord glichen kaum noch lebenden Wesen. Aber es gab noch andere Abenteuer zu bestehen. Schon kurz nach der Ausfahrt wurden sie im Kanal von einem englischen Kreuzer angegriffen. Doch die Matrosen konnten die sechzehn Geschütze, die an Bord waren, so vortrefflich bedienen, dass der Feind es vorzog, schleunigst das Weite zu suchen.
Nach einer Fahrt von reichlich zwei Monaten kamen die Kleinen Antillen in Sicht. Dort entbrannte ein Kampf mit einem grossen spanischen Kriegsschiff, das mit zweiundsiebzig Kanonen bestückt war. „Die frohe Botschaft“ setzte sich wacker zur Wehr, denn in die Gefangenschaft dieser grausamen Gegner zu geraten wäre schlimmer als der Tod gewesen. Doch bei der gewaltigen Überlegenheit des Feindes stand der Untergang allen vor Augen.
Da geschah ein Wunder!
Von Puerto Rico her näherte sich mit vollen Segeln eine Flotte von fünfzehn Schiffen, alle wohlbemannt und reichlich mit Geschützen ausgerüstet. Von den Masten wehte die gefürchtete Flagge des Karaibischen Meeres, der Totenschädel im schwarzen Felde!
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