Ernst Helm - Nordstrands Untergang

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Nordfriesland 1634, mitten im Dreißigjährigen Krieg. Die Lither Feste der verhassten holsteinischen Landsknechte auf Nordstrand ist den freien Friesen ein Dorn im Auge. Nach Klaus Peters' im Affekt begangenen Mord an der Landsknechte hoffärtigem Hauptmann Munke, der Peters verhöhnt und ihm ins Gesicht gespuckt hat, findet sich am nächsten Morgen mit verstellter Handschrift die Prophezeiung an das Tor der Feste geschrieben: «Der Tag ist nicht mehr fern, wo eure Macht ein Ende gefunden hat und eure Feste so tief unter dem Meeresspiegel liegen wird, wie sie jetzt darüber hinausragt.» Im Oktober erfasst den Pastor Heimreich ein rätselhaftes Unbehagen, und er bringt Nahrungsmittel, Wasser und schließlich auch seine Kinder in den Turm, den höchstgelegenen Punkt der Insel. Eine Hochzeitsgesellschaft, die er am Nachmittag des 11. Oktober warnt, sich ebenfalls in Sicherheit zu bringen, schlägt seine Kassandrasprüche jedoch lachend in den Wind. In der Nacht vom 11. auf den 12. Oktober 1634 brechen ab acht Uhr abends binnen einer einzigen Stunde unzählige Dämme: Durch die verheerende Burchardiflut versinken neunzehn Gotteshäuser mit ihren Gemeinden, und die See reißt mehr als 6000 Menschen und 50 000 Stück Vieh mit sich in den Tod – darunter auch alle holsteinischen Landsknechte in der Lither Feste; die Prophezeiung ist wahr geworden. Von der großen Insel Nordstrand sind infolge der Flut außer zwei winzigen Inselchen heute nur noch das westliche Ende Pellworm und das heute mit dem Festland verbundene östliche Ende geblieben, das noch immer den Namen Nordstrand trägt. Ernst Helm (alias Wilhelm Ernst Asbeck) erzählt anschaulich und dramatisch die ergreifende Geschichte einer Naturkatastrophe, die das Gesicht der deutschen Nordseeküste bis heute nachhaltig verändert hat.Ernst Helm ist das Pseudonym des deutscher Schriftstellers Wilhelm Ernst Asbeck (1881–1947). Wilhelm Ernst Asbeck lebte in Hamburg; während des Zweiten Weltkriegs übersiedelte er nach Burg (Dithmarschen). Sein literarisches Werk besteht vornehmlich aus Romanen, Erzählungen, Märchen, Theaterstücken und Hörspielen, die sich häufig historischen Stoffen annehmen und überwiegend in Asbecks norddeutscher Heimat, etwa im Raum Hamburg und an der Nordseeküste, aber auch etwa in Skandinavien angesiedelt sind.-

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Ernst Helm

Nordstrands Untergang

Ein Bericht

Saga

Nordstrands Untergang

© 1935 Ernst Helm

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711517901

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com– a part of Egmont, www.egmont.com

Der Flüchtling

Leben heisst kämpfen!

Das Leben der Nordfriesen war Jahrhunderte hindurch nicht nur ein Kampf gegen Dänen, holsteinische Fürsten, landfremde Unterdrücker und dithmarscher Brüder. Selbst die Naturgewalten waren Nordfriesland feindlich gesinnt.

Das heutige Insel- und Halliggewirr ist in alten Zeiten fest zusammenhängendes Land gewesen. Das unermüdliche Meer riss Zoll auf Zoll von den Küsten, Sturmfluten überschwemmten weite Flächen, und obendrein senkte sich — dem Auge der Lebenden nicht sichtbar — allmählich der Boden.

Ständig wechselte das Landschaftsbild.

Wo einst weite, mit Birken und Tannen bestandene Wälder, von Erlen umsäumte Moore und blumenübersäte Grasteppiche einem Geschlecht der Jäger reiche Nahrung boten, entstand das tote Watt. Die Fluten trugen das salzige Wasser in die Lande, der Baumwuchs und alles Leben erstarben.

Unablässig wühlten sich die Wogen neue Betten, bildeten Rinnen und Flüsse, Inselwelten entstanden und versanken, und hoffnungslos schienen weite Gebiete der mordenden See erliegen zu sollen.

Da landeten am Ende des neunten Jahrhunderts die heutigen Bewohner. Sie stammten von den ostfriesischen Inseln und Küstengebieten. Ihnen verdanken wir es, dass der Zerstörung nach Möglichkeit Einhalt getan wurde. Von ihren früheren niederländischen Nachbarn hatten sie die Kunst des Deichbaues erlernt, und diese Wissenschaft machten sie sich zunutze.

Ein zäher Kampf begann. Lande wurden gewonnen und Lande gingen verloren. Unzählige Schlachten wurden geschlagen, und ist auch heute der grösste Teil des alten Nordfrieslands vom Meere verschlungen, so gelang es doch diesem harten Menschenschlag, wenigstens diese Reste allen Angriffen der mörderischen Nordsee zum Trotze zu erhalten.

Auf einem hohen, breiten Wurthügel steht die trutzige, fast wie eine Burg anzuschauende Trindermarschkirche. Ringsum liegen die Ruhestätten vergangener Geschlechter. Grosse und kleine Kreuze befinden sich nebeneinander, wie Herr und Knecht zu Lebzeiten im selben Hofe wohnten. Dann sind dort viele Steinplatten aufgerichtet, nicht selten solche bis zu zwei Meter Höhe, und in diese ist der Lebenslauf der Verstorbenen eingemeisselt. Aber nicht nur der tote Buchstabe gibt über das Schicksal und den Beruf des Dahingeschiedenen Aufschluss, sondern auch teils kunstvoll ausgeführte Bildwerke reden eine klare, verständliche Sprache: auf Fahrt befindliche Segler, die Kornähre, die Pflugschar, beide Zeichen der Landwirtschaft; Christus mit der Kreuzesfahne; ferner Tulpen, Rosen; geknickte Blumen, das Symbol frühverstorbener Kinder; die Primel, das Sinnbild des Himmelsschlüssels.

An der Kirche vorbei, durch eine blumenbestandene Talmulde, führt ein Weg zum Pastorat. Es ist ein geräumiges, einstöckiges Haus. Wilder Wein rankt sich daran empor und hinter Linden versteckt liegt es wie ein verwunschenes Schlösslein.

Hochsommer ist es. Wir schreiben das Jahr 1634.

Hell und strahlend ist die Sonne aufgegangen.

Im Schatten der hohen Bäume steht ein Mann von vierzig Jahren. Er ist von breiter, stämmiger Gestalt. Sein längliches, edles Gesicht wird von einem kräftigen Vollbart und langen, schwarzen Haupthaaren umrahmt. An der Hand führt er einen schönen, achtjährigen Knaben. Beide blicken froh und glücklich in den jungen Tag hinein. Zu ihren Füssen liegen weite Felder mit wogenden Kornähren; Wiesen, auf denen fette Rinder und kräftige Pferde grasen. Im weiten Halbkreis dehnt sich ein hoher Damm und dahinter, so weit das Auge reicht, glitzernde Wogen. Flut ist, und zahlreiche Schiffe, Boote und Fischkutter ziehen vorüber.

Beide Menschen sind ganz in andächtiges Schauen vertieft, da schrickt der Junge plötzlich zusammen, weist mit der Hand nach Osten und flüstert: „Sieh dort, Vater, wie sich das Korn verdächtig bewegt, als wenn sich etwas hindurchwindet.“

Der Alte hat nun auch die angedeutete Stelle entdeckt und verfolgt das geheimnisvolle Wesen mit gespannter Aufmerksamkeit. Er hat sich mit seinem Sohn hinter eine hohe Hecke zurückgezogen, wo sie gegen Sicht gedeckt sind, selbst aber das ganze Gebiet überschauen können.

Wie eine Schlange schleicht und windet es sich durch das Feld, stets ängstlich bedacht, nicht gesehen zu werden. Hart am Wurthügel ist ein breiter Wassergraben. In unmittelbarer Nähe rauscht und raschelt es im Korn, gleich darauf schnellt eine Gestalt empor, springt hinüber und flüchtet sich ins dichte Buschwerk, das die Halde umsäumt. Näher und näher kommt der Verdächtige, jetzt hat er die Anhöhe erreicht, schlägt das Strauchwerk zurück und blickt mit irren Augen um sich. Als er wähnt, unentdeckt zu sein, eilt er zum nächsten Baum, sich hinter dessen Stamm verbergend. Er zittert am ganzen Körper. Die Kleidung hängt ihm zerrissen vom Leibe, Gesicht, Hände und Hemd sind blutbesudelt. Er wankt, die Knie drohen ihm den Dienst zu versagen.

„Klaus Peters, was hast du getan?“ schlägt unvermittelt eine Stimme an sein Ohr.

Im gleichen Augenblick scheint alle Schwäche von dem Flüchtling zu weichen, jede Sehne strafft sich, und in Kampfstellung erwartet er den unsichtbaren, vermeintlichen Gegner.

„Lebend bekommt Ihr mich nicht!“ ruft er ihm zu, als aber der Mann mit dem schwarzen Vollbart, das Kind an der Hand führend, hinter der Hecke hervortritt, atmet der Verfolgte erleichtert auf. Hastig stösst er hervor: „Pfarrer Heimreich, um der Barmherzigkeit willen, rettet mich! — Ich habe heut nacht im Fährhaus Hauptmann Munke erschlagen, die herzoglichen Bluthunde sind mir auf den Fersen!“

„Du hast Blutschuld auf dich geladen!“

„Er hat uns freie Friesen beschimpft, ich wurde von ihm angegriffen und handelte in Notwehr!“

Die beiden Männer treten ins Haus. Anton, der Sohn, bleibt auf der Anhöhe und hält mit scharfen Augen Ausschau, ob die Verfolger nahen.

Im breiten Trindermarschsiel herrscht reges Leben. Schiffe aus Husum, Hamburg, Bremen, Holland und Dänemark haben dort und in allen übrigen mit dem Meer verbundenen Wasserstrassen Anker geworfen. Sie bringen Kolonialwaren, Gewürze, Stoffe, Tabak, Hausstands- und Landwirtschaftsartikel, Schmuckgegenstände und manches andere nach Nordstrand; mit Getreide, Vieh, Salz und Fischen kehren sie heim.

Vom Mast und Bug des Seglers „Stubenhuk“ flattert die Fahne, die auf rotem Grund das Stadttor mit den drei Türmen trägt. Alles ist zur Abfahrt vorbereitet, gerade soll der Landungssteg hochgezogen werden, da rennt im letzten Augenblick ein Mann im rasenden Lauf hinüber. Kapitän Stehr will ihn sofort unsanft über Bord befördern, als der Fremde ihm ein Schreiben entgegenhält. Es weist nur wenige Worte auf und lautet:

„Pastor Heimreich empfiehlt einen um der Gerechtigkeit willen Verfolgten dem persönlichen Schutz seiner Freunde Gebrüder Amsinck und Kapitän Stehr.“ —

Ein günstiger Wind führt das Schiff aus dem Kanal. Wenige Minuten, nachdem das freie Meer gewonnen ist, erscheint ein Fähnlein berittener Landsknechte auf dem Deich.

Klaus Peters ist dem Henker entronnen. Nun mögen die Gottorper Schergen alle Köge der Insel absuchen, ihn finden sie nicht!

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