Einige Jahre später, um genau zu sein am 31. Juli 2003, veränderte sich mein Leben für immer. Meine Mutter lag mit einer Leberzirrhose im Krankenhaus. Sie war wenige Jahre zuvor wieder rückfällig geworden. Und dieses Mal hatte der Alkohol sie endgültig zerstört. Ich stand an ihrem Bett und sah ihr beim Sterben zu. In diesem Moment hatte ich eine lebensverändernde Erkenntnis. Meine Mutter war ein wunderbarer Mensch mit einem großen Herzen. Sie liebte die Menschen und die Menschen liebten sie. Nur sich selbst liebte sie nicht. In ihr schlummerten enorme Talente, eine Menge Temperament und Leidenschaft. Sie war also ein Mensch voller Potenzial. Und mir wurde klar, dass dieses große Potenzial, größtenteils ungenutzt, nun in den nächsten Stunden mit ihr aus dieser Welt gehen würde. Ein großes Drama für sie, für mich und für viele Menschen, die davon hätten profitieren können.
In diesem Moment wurde mir aber auch bewusst, was mich in meinem Leben wirklich von ganzem Herzen inspirieren würde: die Vorstellung, Menschen dabei zu helfen, ihre Potenziale nicht zu verschwenden und ihr Leben nicht einfach so wegzuwerfen. Sie dabei zu unterstützten, das Beste aus ihren Möglichkeiten zu machen, um etwas Gutes in der Welt und im Leben anderer zu bewirken. Meine Schlüsselerkenntnis war:
Ich möchte ab jetzt für Menschen arbeiten, nicht mehr gegen sie.
Ich möchte anderen Menschen helfen, anstatt sie zu besiegen.
Im wettbewerbsorientierten Leistungssport ging es von morgens bis abends, von Montag bis Sonntag immer nur darum, andere zu besiegen. Mein ganzes Leben war gefühlt ein einziger Kampf. Ich kämpfte um das Leben meiner Mutter. Sie kämpfte gegen sich selbst, gegen ihren Körper und gegen die Dämonen in ihrem Kopf. Meine Eltern kämpften gegeneinander und ich kämpfte um ihre Ehe. Und obwohl ich dieses ständige Kämpfen so satthatte, war ich mittlerweile selbst zum Wettkämpfer geworden. Auch ich geriet in dieses Muster, gegen andere zu kämpfen und zuletzt auch gegen mich selbst.
»Steffen, wenn du deinen größten Feind erkennen willst, den du bezwingen musst, dann schau in den Spiegel«, sagte mir mein damaliger Trainer. Ich weiß, dass er es gut meinte. Aber diese Haltung, mit sich selbst zu kämpfen, führt aus meiner Sicht zu innerem Unfrieden und somit auch zu ständiger innerer Unzufriedenheit. Denn beim Kampf gegen sich selbst gibt es keinen Gewinner. Auf diese Weise wird man im Idealfall vielleicht vorübergehend erfolgreich, aber niemals wirklich glücklich. So entschied ich mich, damit aufzuhören. Ich tauschte den Wettbewerb gegen die Kooperation – aktiven Leistungssport gegen die mentale Unterstützung anderer auf dem Weg zum Sieg. Denn wahrer Erfolg ist aus meiner Sicht erst dann gegeben, wenn mehr als einer gewinnt. Dafür musste ich anfangs auf drei Hochzeiten gleichzeitig tanzen. Ich war Manager eines Volleyballclubs, leitete eine Tennisschule und begann parallel dazu noch ein Fernstudium im Bereich Sportmanagement. Von da an förderte ich junge Talente auf dem Tennisplatz und führte lange Gespräche mit Erwachsenen. Und schon bald suchten auch Entscheider in Unternehmen den Kontakt zu mir und baten mich um Einschätzungen und neue Sichtweisen. Ich erkannte, dass ich die größte Erfüllung darin fand, anderen Menschen zu helfen und sie zu inspirieren. Also bildete ich mich in verschiedenen Gebieten der Psychologie weiter und saugte alles auf, was es international an Wissen und Know-how gab.
Im Laufe der letzten Jahre habe ich Hunderte von Coachings gegeben, unzählige Gespräche geführt und mit über zehntausend Menschen in meinen Seminaren gearbeitet, um sie auf ihrem Weg zu unterstützen. Dabei bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass es im Leben im Kern um zwei Dinge geht: zu wachsen und zu helfen.
Wachstum und Mitwirkung gehören beide zu den sechs emotionalen Grundbedürfnissen eines jeden Menschen. Wachstum ist deshalb wichtig, weil es dazu dient, noch besser mitwirken, also helfen zu können. Wer persönlich gewachsen ist, besitzt mehr Größe und mehr Möglichkeiten. Dadurch kann er auch einen größeren Beitrag für andere leisten. Wenn das eigene Wachstum begrenzt ist, sind auch die Möglichkeiten entsprechend begrenzt, etwas für andere zu bewirken.
Im Kern haben wir also zwei Aufgaben im Leben:
1.Wir müssen so viel Freude und Wachstum wie möglich in unser eigenes Leben zu bringen.
2.Wir sollten möglichst viel Freude und Wachstum ins Leben anderer Menschen bringen.
Was wir nicht mehr brauchen, ist diese veraltete Egozentrik, nach dem Motto: »Mein Haus, mein Auto, meine Yacht, mein Blablabla.« Ganz ehrlich – es geht nicht nur um dich in dieser Welt!
Um unserem Auftrag in der Welt nachzukommen, sollten wir die Egozentrik, die das Ich ins Zentrum stellt, durch »sozialen Egoismus« ersetzen. Mit sozialem Egoismus meine ich, dass wir auf uns selbst achten und auch zu jeder Zeit sicherstellen, dass es uns selbst gut geht. Allerdings sollte das eben nicht einem egozentrischen Selbstzweck dienen, sondern ein Mittel zu einem sozialen Zweck sein: dem Auftrag, auch etwas Gutes für andere zu bewirken. Denn nichts in der Natur existiert nur aus reinem Selbstzweck.
Die Konsequenz: Wir müssen aufhören, zu versuchen, auf Kosten anderer zu wachsen. Denn persönliches Wachstum ist nicht das Endziel, sondern lediglich die Voraussetzung dafür, etwas von unserem Wachstum weiterzugeben. Denn Erfolg ist nicht dazu da, um ihn zu besitzen, sondern um ihn zu teilen.
Leider führt das aber bei manchen Menschen dazu, der Selbstlosigkeit zu erliegen. Sie vergessen sich komplett selbst, weil sie von ihrer Nächstenliebe so geblendet sind. Das kann nicht gut gehen. Denn wer sein Selbst vergisst, kann auch keine Selbstliebe, kein Selbstwertgefühl und dann natürlich auch kein Selbstvertrauen aufbauen. Wer sich selbst vergisst, bleibt klein und arm. Und wer materiell und auch emotional arm ist, dessen Bankkonto und Energiekonto sind leer. Es gilt die alte Regel: Wer nichts hat, kann auch nichts geben.
Menschen, die selbst wenig Lebensfreude und Lebensenergie haben, können auch anderen Menschen auf Dauer nichts davon vermitteln und somit auch nicht helfen. Natürlich funktioniert das eine Weile. Über einige Zeit hinweg kann man durchaus mehr geben, als man hat. Doch damit überzieht man sprichwörtlich sein eigenes Konto immer mehr und stürzt langfristig in eine noch tiefere innere und äußere Armut. Diese Armut führt dann in der Regel zu Folgeerscheinungen wie Insolvenzen, Depressionen, Burn-out, Streit oder Scheidung. Was lernen wir daraus? Wer sich um andere kümmern will, muss sich zuerst und genauso intensiv um sich selbst kümmern. Das ist der eine Teil der Lektion. Der andere Teil ist aber auch: Selbst erfolgreich und glücklich zu sein ist kein reiner Selbstzweck, sondern die Grundlage dafür, diesen Wohlstand an andere weiterzugeben. Nicht, ihn zu verteidigen. Es steht ja schon im Grundgesetz: Eigentum verpflichtet. Eigentlich ein alter Gedanke. Aber immer noch einer, für den wir in unserer Gesellschaft, in der Wirtschaft und ganz besonders in uns selbst eine mentale Revolution anzetteln müssen. Lass uns das gemeinsam tun. Füreinander und nicht gegeneinander.
Dein Steffen Kirchner
TEIL 1
Wir brauchen eine Revolution
› Die Zukunft hat viele Namen: Für Schwache ist sie das Unerreichbare, für Furchtsame das Unbekannte, für die Mutigen die Chance .‹
VICTOR HUGO, FRANZÖSISCHER SCHRIFTSTELLER (1802–1885)
Vielleicht fragst du dich gerade, warum ich hier ausgerechnet mit einem Zitat von Victor Hugo einsteige. Der ist ja bereits lange tot und hat mit dem Wandel heute auf den ersten Blick so viel zu tun wie ein tragbarer CD-Spieler. Du täuschst dich. Der französische Schriftsteller führte ein Leben am Puls seiner Zeit. Und mit seiner mentalen Haltung kann er auch heute noch vielen als Vorbild dienen. Hugo lebte mitten im krassen Wandel, wuchs zu einer Zeit auf, die von der bis heute bedeutendsten Revolution der Neuzeit, der Französischen Revolution, nachhaltig geprägt wurde. Diese Revolution hat so ziemlich alles auf den Kopf gestellt, was für die Gesellschaft damals eine Rolle spielte – Herrschaftsstrukturen wurden ebenso durchbrochen wie soziale und kulturelle Systeme. Wirklich revolutionär war aber die mentale Grundhaltung, die vorherrschte. Diese Revolution startete in den Köpfen der Menschen. Und genau da müssen wir heute auch beginnen – mit einer mentalen Revolution!
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