Der Kellner hatte, an seine vorhergehenden Beobachtungen denkend, zunächst angenommen, daß es zwischen dem Ehepaar zu einem ernsten Zerwürfnis gekommen sei. Merkwürdigerweise war aber Frau Damm auch bis zum nächsten Morgen nicht wieder in dem Gasthof erschienen. Als sie drei Tage verschwunden blieb und auch niemand sich um ihre zurückgelassenen Sachen kümmerte, war dem Kellner die Sache verdächtig erschienen und er hatte seine Beobachtungen der Polizei mitgeteilt.
Die örtliche Polizei hatte zunächst den Angaben wenig Bedeutung beigemessen und sich damit begnügt, in Berlin einige Ermittlungen über das Ehepaar Damm anzustellen. Bald aber waren Tatsachen bekannt geworden, die dem Verdacht des Kellners eine ernste Unterlage gaben. Frau Damm war auch in ihrem Heim nicht wieder aufgetaucht. Ihr Mann erklärte auf Befragen, seine Frau habe ihn nach einem schweren, ehelichen Streit verlassen. Wohin sie sich gewandt habe, sei ihm unbekannt. Gleichzeitig wurde jedoch festgestellt, daß Doktor Damm erst vor vier Monaten seine Frau in eine Lebensversicherungsgesellschaft eingekauft habe, und zwar für die hohe Summe von 80 000 Goldmark. Noch verdächtiger wurde die Sache, als eine alte Tante der Frau Damm der Polizei einen Brief vorlegte, den sie vor einiger Zeit von ihrer Nichte Imma erhalten hatte. Es war ein ziemlich konfuser Brief, in dem Frau Imma Damm unter anderem auf das Testament ihrer Tante Bezug nahm. „Es ist lieb von Dir, Tante Margrete, daß Du mich zu Deiner Erbin einsetzen willst, aber ich glaube bestimmt, daß Du länger leben wirst als ich. Vielleicht sind meine Tage schon gezählt. Denke daran, wenn Du hörst, daß ich nicht mehr bin.“
Es waren auch einige andere schwerbelastende Dinge ans Licht gekommen. Ein Bauer aus der Umgebung von Lüneburg hatte in den Abendstunden ein Paar beobachtet, das auf einem Feldweg in der Richtung des großen Moores ging und sich heftig zu streiten schien. In der Heide, unweit der Moorfläche, hatten die Landjäger einen Seidenschal gefunden, in dem das Personal des Gasthofs in Lüneburg ein Tuch erkannte, das Frau Damm bei ihrem dortigen Aufenthalt getragen hatte. Auch Doktor Damm selbst mußte den Schal als Eigentum seiner Frau anerkennen. Die Hausgehilfin bei Damms bekundete, daß das eheliche Verhältnis zwischen den Gatten seit längerer Zeit getrübt war. Frau Damm hatte ihrem Gatten mehrfach heftige Vorwürfe gemacht über seine Freundschaft mit der Laborantin Ursula Helbis.
Hier gab es Christoph Kind einen Ruck. Ursula Helbis ... aber war das möglich? Eine Einundfünfzigjährige? Vielleicht handelte es sich um die Tochter der Dame, die bei ihm angerufen hatte? Aber hatte sie sich nicht selbst als Laborantin des Doktor Damm bezeichnet? Wie alt war denn dieser Doktor Damm eigentlich? Kind blätterte noch einmal die Zeitungen durch. Über das Alter des Verdächtigen war keine Angabe zu finden.
Jedenfalls war auf Grund all dieser Ermittlungen Doktor Damm in Untersuchungshaft genommen worden. Er selbst bestritt entschieden, über das Verschwinden seiner Frau irgend etwas zu wissen. Ebenso bestritt er, daß die Eifersucht seiner Frau begründet gewesen wäre. Sein Verhältnis zu Fräulein Helbis sei stets nur freundschaftlich gewesen. Befragt, ob er einen Selbstmord seiner Frau für möglich halte, sagte Doktor Damm entschieden, daß er dies für ausgeschlossen halte.
Dennoch wäre die Polizei geneigt gewesen, an einen Freitod zu glauben, wenn nicht zwei weitere Feststellungen Doktor Damm schwer belastet hätten. Erstens war es Doktor Damm unmöglich, nachzuweisen, welcher Art die Geschäfte waren, die ihn zu dem eiligen Verlassen Lüneburgs und zur Rückkehr nach Berlin zwangen, und zweitens hatten die von Berlin nach Lüneburg entsandten Kriminalbeamten bei einer Untersuchung des Gasthofes einen wichtigen Fund gemacht. In dem Sofa, auf dem das Ehepaar Damm in der Gaststube gesessen hatte, als es seinen Kaffee einnahm, entdeckte einer der Beamten zwischen Polster und Lehne eingeklemmt ein zerknülltes Papierchen, das offenbar als Umhüllung für ein Pulver gedient hatte. In den längst abgespülten Kaffeetassen waren natürlich keine Spuren mehr zu finden, aber die Untersuchung, die im Laboratorium der Kriminalpolizei angestellt wurde, ergab, daß das Papier winzige Spuren von Morphium enthielt. Die vorhandenen leichten Kniffe des Papiers wiesen darauf hin, daß es als Umhüllung für mehrere Morphiumtabletten in der handelsüblichen und auf ärztliches Attest hin verordneten Form diente. Damit gewann der Ausruf Frau Damms: „Du hast versucht, mich zu vergiften!“ eine ernste Bedeutung.
Doktor Damm war ein bisher unbescholtener, angesehener Gelehrter. Seine Vorgesetzten und Mitarbeiter im Laboratorium des Geheimrates Drusen stellten ihm sowohl als Mensch wie auch als Wissenschaftler ein glänzendes Zeugnis aus. Seine Vermögenslage war gut und durchaus geordnet. Doktor Damm verfügte neben seinem guten Gehalt über ein eigenes, nicht unbeträchtliches Vermögen, das sogar das Vermögen seiner Frau überstieg. Niemand hatte an ihm Neigung zu Verschwendung oder kostspieligen Liebhabereien bemerkt. Es erschien etwas merkwürdig, daß ein solcher Mann einen Versicherungsmord begangen haben sollte. Die Polizei neigte daher auch eher zu der Ansicht, eine Ehetragödie vor sich zu haben. Jedenfalls aber sprachen die Verdachtsmomente stark gegen Doktor Damm. Zur Zeit wurde fieberhaft nach der Verschwundenen gesucht. Aber wen die trügerische grüne Decke des Moores einmal verschluckt hatte, den gab sie nicht wieder her. Polizei und Öffentlichkeit vermuteten, daß Frau Imma Damm irgendwo unter der grundlosen Moorfläche der Ewigkeit entgegenschlief und die Zeitungen waren sich über die Schuld des Doktor Damm einig.
Christoph Kind trank nachdenklich noch einen Kognak. Er erinnerte sich jetzt, daß vor ein paar Tagen am Stammtisch auch über diesen Fall gesprochen wurde und daß zum Beispiel der Sanitätsrat Ebel von der Täterschaft des Doktor Damm überzeugt gewesen war. Es sah ja auch wirklich so aus, als ob es sich so verhielte. Die Aussagen des Kellners, die kürzlich abgeschlossene Versicherung, die Bekundung der Hausangestellten, das Morphium in der Sofaecke und nicht zuletzt das verdächtige Benehmen des Doktor Damm bei seiner Abreise von Lüneburg – das alles ließ eigentlich keinen Zweifel aufkommen.
Und nun hatte die Freundin Doktor Damms, Ursula Helbis, bei ihm angerufen und etwas von einem zerrissenen Seidenschal erzählt. Deshalb aber an Leopardenmenschen zu glauben, war Blödsinn! Freilich, Frau Damm war bei dem Anblick des ausgestopften Leoparden erschrocken, aber wer weiß, welche Erinnerung er in ihr auslöste. Wie sollten Leopardenmenschen in die Lüneburger Heide kommen? Ein Glück, daß Doktor Mohr, der alte Bekannte, die Sache bearbeitete. Ein anderer Beamter würde ihn grob anfahren, wenn er Dinge erzählte, die mit dem vorliegenden Fall gar nichts zu tun hatten. Mohr würde ihn höchstens furchtbar auslachen. Ob es überhaupt einen Sinn hatte, hinzugehen? Aber er hatte es versprochen, und ein wenig neugierig war er doch auf diese Frau Helbis, die sich da am Telefon so warm für Doktor Damm eingesetzt hatte. Außerdem interessierte ihn die ganze Sache allmählich.
Christoph Kind packte gähnend die Zeitungen zusammen und stellte bedauernd fest, daß er den Rest der Kognakflasche genehmigt hatte, während seine Gedanken dem Kriminalfall nachgingen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich nun doch ins Bett zu verfrachten. Trotz der nötigen Schwere konnte er lange nicht einschlafen. Seine Gedanken kreisten hartnäckig um Afrika, quälten ihn mit Erinnerungen an seine eigenen abenteuerlichen Erlebnisse mit Leopardenmenschen. Er sah sich selbst in dem fernen Urwalddorf nachts aus dem Schlaf auffahren, hörte den gellenden Schrei seines Hüttennachbars: „Zu Hilfe!!! Der Maghena hat meinen Vater geholt!“ Er dachte an die Stunde, da er, im Busch versteckt, dem grausigen Tanz der Leopardenmänner um den Bluttopf zusah. Jede Sekunde konnte er selbst entdeckt werden und unter den Messern und Keulen der Wilden enden. Dann sah er wieder die gefangenen Leopardenmenschen, die in schweren Ketten in das Gefängnis zu Kinshassa eingebracht wurden. Ganz deutlich sah er ihre Gesichter vor sich, diese starren, ausdruckslosen. Gesichter mit dem unheimlichen, raubtierhaften Blick.
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