Seine Grandma hatte von ihrer Tochter gesprochen.
Mit ihr war sie sehr viel rigoroser und strenger gewesen, als diese in Deans Alter gewesen war. Ihr hätte sie niemals ein Tattoo erlaubt und ihr hätte sie vermutlich auch niemals Konzertkarten für Blink-182 zu Weihnachten geschenkt. Und ihr hätte sie mit siebzehn Jahren niemals gestattet, Musiker und Mitglied einer Band mit vier anderen Jungs zu werden.
Ihre Tochter hatte gegen ihre Mom rebelliert, indem sie die Highschool geschmissen hatte, abgehauen war und ein paar Jahre später mit einem Baby aufgetaucht war, das sie ihrer Mom übergeben hatte, bevor sie wieder verschwunden war.
Dean war jenes Baby gewesen, das bei seiner Grandma aufgewachsen war und seine Mom nie kennengelernt hatte. Und er war auch derjenige, der allem Anschein nach mehr Freiheiten genossen hatte als seine Mutter, weil seine Grandma glaubte, bei ihrer Tochter Fehler gemacht zu haben.
Dazu konnte er nichts sagen, weil er seine Mutter nur von Fotos und von Geschichten kannte, die er ab und zu aufgeschnappt hatte, wenn er die Freundinnen seiner Großmutter belauscht hatte. Keine dieser Geschichten war besonders schmeichelhaft gewesen. Seine Mutter schien gegen alles und gegen jeden aufbegehrt und seine Grandma an den Rand der Verzweiflung gebracht zu haben, bevor sie nachts aus dem Fenster geklettert und verschwunden war.
Als Junge hatte er sich immer gefragt, ob er glauben sollte, dass seine Mutter so verantwortungslos, egoistisch und undankbar gewesen war, wie es sich die Leute erzählten. Seine Grandma hatte ihm nie viel über seine Mutter erzählt. Aber dass sie ihn kein einziges Mal besucht hatte, dass sie ihre eigene Mom nie angerufen hatte, um sich nach ihm zu erkundigen, und dass sie sich nicht für ihn interessiert hatte, sagte ihm alles, was er wissen musste.
Seine Mutter hatte ihn schlichtweg nicht gewollt und stattdessen bei ihrer Mutter abgeladen, damit sie sich um ihn kümmerte.
Vermutlich hätte ihm nichts Besseres passieren können, denn seine Grandma war warmherzig und liebevoll, und sie hatte ihn mit allem versorgt, was er brauchte. Dean hatte eine schöne Kindheit gehabt und konnte sich nicht daran erinnern, sich von seiner Grandma jemals ungeliebt gefühlt zu haben. Sie war immer für ihn da gewesen und hatte alles für ihn getan. Das rechnete er ihr hoch an. Und außerdem liebte er sie abgöttisch. Wenn er nach Hause kam, um sie zu besuchen, war es für ihn selbstverständlich, mit ihr sonntags in die Kirche zu gehen und sich abends mit ihr die neueste Folge Columbo oder eine der unzähligen Wiederholungen von Matlock anzusehen. Und wenn er unterwegs war, schickte er ihr aus jeder Stadt, in die er kam, eine Postkarte, um ihr zu zeigen, dass er an sie dachte und dass es ihm gut ging.
Und vielleicht wollte er ihr auf diese Weise auch zeigen, dass er nicht wie seine Mutter war – dass er nicht verantwortungslos und undankbar war.
Während er über seine Grandma und seine Mutter sinnierte, betrachtete er Taylor und dessen schmerzverzerrte Miene.
Auch sein Kumpel war ein gebranntes Kind, was seine Mutter, seine richtige Mutter, betraf, die das Weite gesucht und ihr Kind zurückgelassen hatte. In einem schwachen Moment vor ein paar Monaten hatte Taylor ihm davon im Vertrauen erzählt, als sie gemeinsam an einem Song gearbeitet hatten. Dean glaubte nicht, dass Cole, Zac oder Jesse die Geschichte kannten. Normalerweise redete Taylor nicht gerne über seine Mutter, und Dean konnte es gut verstehen, schließlich ging auch er nicht mit der Tatsache hausieren, dass seine Mutter ihn nicht hatte haben wollen.
Und obwohl Taylor und Dean diese Gemeinsamkeit besaßen, gab es einen entscheidenden Unterschied zwischen ihnen, denn Taylors Mutter hatte sich aus dem Staub gemacht, als er fünf Jahre alt gewesen war, und sie hatte ihn bei seinem Dad gelassen, der ein zweites Mal geheiratet und seinem Sohn die beste Stiefmutter geschenkt hatte, die ein Junge haben konnte.
Dean kannte Taylors Stiefmutter Bess, die für Taylor alles getan hätte und ihn liebte wie einen eigenen Sohn.
So eine Erfahrung fehlte Dean, denn er kannte weder seine Mom noch seinen Dad.
Ganz automatisch trank er einen Schluck aus der Wodkaflasche und sagte sich, dass es okay war, seine Eltern nicht zu kennen. Wenn sie ihn nicht hatten haben wollen, dann wollte er sie auch nicht. Warum sollte er sich also darüber den Kopf zerbrechen?
Familie war sowieso nicht immer das Wahre.
Sein Kumpel Cole war das beste Beispiel. Er gehörte zu einer wahren Bilderbuchfamilie und hatte Eltern, die noch immer verheiratet waren, sowie einen älteren Bruder und eine ältere Schwester. Eigentlich könnte sein Familienleben perfekt sein, aber sie alle interessierten sich einen Scheißdreck für ihn. Obwohl Cole zusammen mit seiner Band schon zum dritten Mal infolge auf Platz eins der US-Charts stand und als heißer Anwärter für den Grammy gehandelt wurde, hatte seine Familie noch nicht ein einziges Konzert besucht. Cole spielte zwar den Lässigen, aber als sie vor ein paar Wochen ganz in der Nähe seiner Heimatstadt aufgetreten waren und sich niemand aus seiner Familie dort hatte blicken lassen, war er verdammt geknickt gewesen. Sie alle hatten es bemerkt. Es hatte Dean tierisch leidgetan, seinen Kumpel niedergeschlagen zu erleben, weil seine Familie nicht den geringsten Funken Stolz zeigte, was ihn betraf.
Zac wiederum war anders gestrickt als Cole und gab einen Scheiß auf seine Eltern. Er musste nicht einmal den Lässigen spielen, weil es ihn wirklich nicht interessierte, ob seine Eltern stolz auf ihn waren oder nicht. Er hatte sich von seinen Eltern, die schon seit Jahren geschieden waren und ihn das machen ließen, was er wollte, längst abgekapselt. Als er vor zwei Jahren mit gerade einmal sechzehn zu SpringBreak gekommen war, hatte sich weder seine Mom noch sein Dad darum gekümmert, ob es ihm gut ging oder ob er als Teenager mit der Belastung eines Musikers im Rampenlicht überhaupt klarkam. Dean war Zeuge gewesen, wie sie lediglich ihre Einwilligung gegeben und sich gleich darauf wieder um sich selbst gekümmert hatten. Von einem engen Verhältnis zwischen Zac und seinen Eltern konnte niemand sprechen.
Einzig Jesses Familie zeigte Interesse an dem, was er tat, und besuchte ihn, wenn SpringBreak auf Tour waren. Mit seinem älteren Bruder waren sie alle zusammen essen gegangen, als er nach Florida gekommen war, wo sie ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Und zum fünfzigsten Geburtstag seines Dads war die ganze Band eingeladen worden. Unter ihnen fünf war Jesse tatsächlich der Einzige mit einer normalen, interessierten Familie.
Einer von fünf.
Die Statistik sah demnach ziemlich bescheiden aus.
Während Dean die Flasche in seiner Hand hielt und verfolgte, wie Taylor irgendetwas an Stanley gewandt raunte, was er nicht verstand, überlegte er, wie seltsam es war, mit neunzehn Jahren zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie eine Familie zu haben. Für ihn waren Taylor, Cole, Zac und Jesse nicht nur seine Bandkollegen und Kumpels, sondern sie waren seine Brüder geworden. Das mochte verdammt kitschig und rührselig klingen, aber tatsächlich fühlte er sich den anderen vier so eng verbunden, als würde er sie schon ewig kennen.
Seit zwei Jahren waren sie ununterbrochen zusammen, bewohnten ein gemeinsames Haus, tourten miteinander und verbrachten ihre gesamte Zeit zusammen. Es war ein Wunder, dass noch keiner von ihnen Amok gelaufen war, weil es eigentlich eine absolute Zerreißprobe war, ständig aufeinander zu hocken. Aber die viele gemeinsame Zeit hatte sie nur stärker zusammengeschweißt.
Auf der Highschool hatte Dean einige Freunde und Kumpels gehabt, aber keinem von ihnen hatte er sich jemals so verbunden gefühlt. Für seine Bandkollegen würde er glatt durchs Feuer laufen, und er wusste, dass es ihnen nicht anders ging.
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