Als Konsequenz haben wir heute nur einige wenige Prozent „begabte“ Reiter, die das Reiten nur am Sitz beherrschen und daher Zügel- und Schenkelhilfen lediglich ergänzend zur Betonung ihrer Wünsche einsetzen. Demgegenüber steht die überwältigende Mehrheit der Reiter, die ihre Pferde buchstäblich mit Händen und Füßen bearbeiten und dennoch vergeblich nach dieser Leichtigkeit und Harmonie einer gemeinsamen Bewegung suchen. Auch Unterricht bei „begabten“ Reitern hilft wenig, denn diese können ihre Fertigkeit nicht so mit Worten erklären, dass sie für einen „Unbegabten“ nachvollziehbar wird.
Manolo Oliva (Jahrgang 1965) ist in der Doma Vaquera, der Doma Classica und der Alta Escuela zu Hause und einer der zeitgenössischen Reitmeister, die das Reiten „nur am Sitz“ beherrschen. Aus einem Interview der Zeitschrift „Feine Hilfen“ (Heft 20, Dezember 2016) sind folgende Sätze von ihm zitiert (Oliva, 2016): „Wenn man Reitern sagt, dass sie ihre Hände und Beine nicht benutzen dürfen, finden sie meist von ganz allein ihre Art zu sitzen. Man muss gar nicht mehr sagen. Können Sie mir erklären, wie man ein Fahrrad fährt? Nein, können Sie nicht. Aber jeder meint, anderen erklären zu können, wie sie die Balance auf einem Pferd finden. Das ist der zentrale Fehler. Setzt man ein Kind auf den Rücken eines netten, friedlichen Pferdes und sagt ihm, dass es weder seine Hände noch seine Beine benutzen soll, wird es eine halbe Stunde später das Pferd ohne Probleme nach links und nach rechts steuern können, ohne seine Hände zu benutzen. Warum? Weil das etwas ganz Natürliches ist. Das Kind muss nur lernen, über die Bewegungen des Pferdes seinen eigenen Körper zu spüren.“ In diesem Zitat ist bereits alles Entscheidende über das Reiten „nur am Sitz“ gesagt: Weglassen aller Zügel- und Schenkelhilfen und über die Bewegungen des Pferdes den eigenen Körper spüren. Wenn Sie allerdings zur überwiegenden Mehrheit der erwachsenen „unbegabten“ Reiter gehören, werden Sie allein mit diesem Rat nichts anfangen können und stattdessen viele Fragen haben, zum Beispiel: Wie kann man ein Pferd lenken, indem man seine Bewegungen im eigenen Körper spürt? Warum darf man dabei seine Hände und Beine nicht benutzen?
Die gute Nachricht ist – man kann mithilfe der modernen Naturwissenschaft all diese Fragen beantworten (und selbstverständlich auch erklären, wie man Fahrrad fährt). Ein Blick in die moderne Neurobiologie ( Kapitel 1dieses Buches) erklärt, warum wir unsere Hände und Beine beim Reiten möglichst nicht gebrauchen sollten und was es bedeutet, über die Bewegung des Pferdes den eigenen Körper zu spüren.
Versteht man die Biomechanik der Pferdebewegung ( Kapitel 2) und deren Übertragung auf den menschlichen Körper ( Kapitel 3), so versteht man auch, wie der Reiter die Bewegung des Pferdes mit seinem Körper „lesen“ und steuern kann. Dieses biomechanische Verständnis und das darauf aufbauende Körpergefühl sind dann die Grundlage einer wirklichen Gymnastizierung des Reitpferdes ( Kapitel 4).
Vieles in diesen ersten vier Kapiteln wird fremdartig wirken im Vergleich zur heutigen und historischen Reitliteratur, die auf einer jahrtausendealten Kultur aufbaut. Die Reitmeister der vergangenen Jahrhunderte haben viele Zusammenhänge erfühlt, die sie mit der ihnen verfügbaren Wissenschaft noch nicht analysieren konnten. Sie haben, auf dem Wissensstand ihrer Zeit und orientiert an den damaligen Bedürfnissen, viele didaktische Meisterwerke über die Reitkunst geschaffen. Daher ist der letzte Teil dieses Buches ( Kapitel 5) einer Analyse der historischen Reitlehren aus dem Blickwinkel der modernen Biologie gewidmet.
In diesem Buch wird häufig Bezug genommen auf die Körperebenen bei Mensch und Pferd.
(Illustrationen: links: shutterstock.com/BioMedical, rechts: shutterstock.com/decade3d– anatomy online)
(Zeichnung: Brigitte Kaluza)
Warum ist es sinnvoll, sich mit Neurobiologie und Gehirnfunktion zu befassen, wenn man eigentlich „nur“ besser reiten will? Sehen wir uns noch einmal die Problematik an, die seit Jahrhunderten auf dem Gebiet des Reitens und der Reitlehren besteht: Kinder, die noch zu klein sind, um Erklärungen zu verstehen und bewusst zu verarbeiten, lernen Reiten automatisch, einfach durch Erfühlen auf einem kooperativen Pferd. Reitlehrer, die erklären sollen, wie Reiten funktioniert, sprechen von Schenkel- und Zügelhilfen, aber wenn sich Erwachsene beim Reitenlernen an diese Instruktionen halten, ist das Ergebnis unvollkommen. Der Weg über das bewusste Verarbeiten einer Reitinstruktion führt paradoxerweise zu einem schlechteren Resultat. Der Grund ist, dass unsere Handlungen, unsere Bewegungen und unsere Absichten nicht nur von unserem Bewusstsein gesteuert werden. Unsere Steuerzentrale ist ein Team mit mehreren Mitgliedern, von denen nur eines unser Bewusstsein (mit Sitz in der Großhirnrinde) ist. Reitlehren sprechen unseren bewussten Verstand an, aber leider funktioniert Reiten nicht primär mit denjenigen Körperteilen, die wir bewusst steuern. Daher geschieht das, was wir auch im Alltagsleben bei Teamarbeit beobachten – es kommt nichts Vernünftiges dabei heraus, wenn das Teammitglied, das am wenigsten von der Aufgabe versteht, ständig das große Wort führt.
Sehen wir uns daher zunächst einmal das Team genauer an, das unsere Handlungen steuert. Wir glauben zwar, dass wir unsere Körperbewegungen bewusst steuern können, aber in Wirklichkeit bedient unser Bewusstsein unseren Körper in etwa so, wie wir unseren Laptop oder unser Smartphone bedienen – über eine Benutzeroberfläche, hinter der viele miteinander verschaltete Prozessoren und Programme arbeiten.
Das Orchester – Gangmuster-Schaltzentren erzeugen die Körperbewegung
Die Fortbewegung aller Wirbeltiere wird im Rückenmark von den Gangmuster-Schaltzentren erzeugt. Sie beherrschen die von ihnen gesteuerten Muskelgruppen wie Musiker eines Orchesters ihre Instrumente .
Die eigentliche Bewegungssteuerung, die uns (oder einem Pferd) das Laufen ermöglicht, findet in Gruppen von Nervenzellen statt, die entlang unseres Rückenmarks und im Hirnstamm angeordnet sind. Menschen und Pferde sind Wirbeltiere. Die gemeinsamen Vorfahren aller Wirbeltiere lebten vor etwa 530 Millionen Jahren und sahen ungefähr so aus wie die heute noch existierenden Lampreten: fischähnliche Wesen, die sich im Wasser durch Schlängeln fortbewegen ( Abb. unten).

Versteinerung von Myllokunmingia: Das erste Wirbeltier lebte vor ca. 530 Millionen Jahren.
Die heute noch lebenden Lampreten (hier ein Neunauge) ähneln im Körperbau dem Urwirbeltier.
Das Prinzip der neuronalen Bewegungssteuerung stammt vom Ur-Wirbeltier. (Fotos: links: commons.Wikimedia/Degan Shu, Northwest University, Xi’an, China, rechts: shutterstock.com/AndreiNekrassov)
Das Grundmuster der Fortbewegung aller Wirbeltiere basiert immer noch auf Schlängelbewegungen, auch wenn wir uns nicht mehr im Wasser fortbewegen oder mit dem Bauch auf dem Boden wie eine Schlange kriechen, sondern inzwischen Beine haben. Vierbeinige Wirbeltiere (dazu zählen auch Menschen, auch wenn wir normalerweise nur noch auf den Hinterbeinen laufen) haben zwei Gruppen von Nervenzellen im Rückenmark, die die Fortbewegung steuern, eine im Bereich der Lendenwirbel (für die Hinterbeine) und eine im Halsbereich (für die Vorderbeine oder Arme). Diese Gruppen von Nervenzellen erzeugen das zentrale Bewegungsmuster und heißen daher in der wissenschaftlichen Literatur „Central Pattern Generator“ oder abgekürzt CPG, da Englisch die internationale Sprache der modernen Naturwissenschaft ist. Auf Deutsch könnte man sie als „Gangmuster-Schaltzentren“ bezeichnen ( Abb. Seite 16).
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