In der Biografie Siddharta Gautamas sind drei Szenen besonders bedeutsam: Die Erfahrung von tiefen meditativen Zuständen als Kind unter dem Rosenapfelbaum, die sogenannten vier Exkursionen und der große Abschied als junger Erwachsener. Diese werden in den folgenden Abschnitten ausführlich beschrieben.
Der Rosenapfelbaum (oder das Pflügen)
Die Rosenapfel-Szene erscheint auf den ersten Blick belanglos, spielt aber eine entscheidende Rolle in der Biografie des Buddha. Sie ist so wichtig, da Siddhartha Gautama »zum ersten Mal von der Möglichkeit der Befreiung kostete – etwas, das universell für jeden zur Verfügung steht, der es versucht« (Sasson 2013, S. 82). Der Rosenapfelbaum ist ein Busch mit tiefhängenden Ästen, der allerdings bis zu 15 m hoch wachsen kann und Früchte trägt, die ähnlich sind wie Guavas.
Das Pflugfest war eine wichtige Feier am Hof. Jeder zog seine beste Kleidung dazu an. Suddhodana nahm seinen Sohn und seine Kindermädchen mit zum Feld und Siddhartha Gautama saß im Schatten unter einem Rosenapfelbaum. In dieser berühmten Pflug-Szene beobachtete Siddhartha Gautama seinen Vater, wie er in dieser wichtigen Zeremonie das Feld pflügte, um seine Herrschaft zu bekunden.
Unter dem Rosenapfelbaum trat Siddhartha Gautama zum ersten Mal in eine tiefe Meditation ein. In einer Version der Texte blieb er im Schatten des Baums sitzen, obwohl sich der Schatten aller anderen Bäume inzwischen verändert hatte. Er erkannte, dass es selbst bei dieser wichtigen Feier Leid für Lebewesen gibt, da Insekten und Würmer durch die Pflugscharen aufgewühlt und von den Vögeln gegessen wurden. Andere Texte schmücken die Geschichte weiter aus und berichten, dass der Pflug einen Frosch und eine Schlange tötete. Ein Junge ergriff daraufhin den Frosch, um ihn später zu essen, und warf die Schlange weg. Zur gleichen Zeit fühlte Siddhartha Gautama ein tiefes Mitgefühl mit den anwesenden Menschen, für die Arbeiter, die in der heißen Sonne schwitzen, und für die Last der Büffel, die den Pflug ziehen mussten (Sasson 2013, S. 83). Im Gegensatz zu seinem Vater, der mit dem Pflügen beschäftigt war und somit gerade diese Schmerzen verursachte, stand Siddhartha Gautama abseits vom Geschehen und distanzierte sich von der weltlichen Rolle seines Vaters. Dadurch betonte er seine Rolle als zukünftiger Mönch.
In einer der Lehrreden des Buddha, der »Großen Rede an Saccaka« (Buddha, Middle Length Discourses 1995, Sutra 36, Paragraf 31) wird diese Szene detailliert beschrieben:
»Ich kann mich erinnern als mein Vater, der Herrscher der Sakyas, beschäftigt war, während ich in dem kühlen Schatten eines Rosenapfelbaums saß, abseits von sinnlichen Freuden, abseits von ungesunden Geisteszuständen, trat ich ein und verblieb in dem ersten Jana, der begleitet wird durch angewandtes und aufrechterhaltendes Denken, durch Entrückung und Freuden, die aus der Abgeschiedenheit geboren wurden. Könnte dies der Pfad zur Erleuchtung sein?« Danach kam die Erkenntnis: »Dies ist wirklich der Pfad zur Erleuchtung.«
Unter dem großen Rosenapfelbaum trat Siddhartha Gautama in die erste Stufe der vier Versunkenheitszustände, die in der Sprache Pali »Janas« genannt werden. Diese Vertiefungen entsprechen meditativen Zuständen, die mit innerer Freude beginnen, gefolgt von Glück, Ausgeglichenheit und schließlich klarer Einsicht. Dieser vierte Zustand wird auch mit den Begriffen »weder Freude noch Schmerz« bezeichnet (Titmuss 1998, S. 188). Der erste meditative Zustand des inneren Glücks, den Siddhartha Gautama erlebt hatte, ist gekennzeichnet durch Freude, Gelassenheit und gerichteter Aufmerksamkeit. Es ist ein tiefer und bewegender Zustand der Meditation, der erreicht werden kann, indem man sich auf ein Objekt, üblicherweise den Atem, konzentriert. Indem man das Kommen und Gehen des Atems beobachtet, kommt Stille ganz natürlich und die dadurch ausgelöste Gelassenheit kann zu noch tieferen Zuständen der Absorption vorangehen. So angenehm diese meditativen Erfahrungen auch sind, sie sind nicht Voraussetzung für Einsicht und Verständnis. Manche Menschen erreichen diese Zustände niemals in ihrem Leben, zeigen aber dennoch große Weisheit. Dagegen können andere leicht in die »Janas« eintreten, werden von ihnen abhängig und versuchen diese besonderen Gefühle wieder zu erleben.
Ohne Zweifel können Kinder die Stadien der inneren Freude spontan erleben, zum Beispiel, wenn sie von der Natur überwältigt sind. Die Erfahrung dieser Absorption als Kind kann einen zu späteren Zeiten im Leben an die Möglichkeit eines spirituellen Lebens erinnern. Als der junge Siddhartha Gautama in diesen meditativen Zustand eintrat, war er einerseits alleine, andererseits mit anderen Menschen zusammen. In der Anwesenheit seines Vaters, der auf dem Feld pflügte, war er seinem Vater nicht nur körperlich nahe, sonderm auch dem, was dieser repräsentierte. Das war für ihn vertraut, vielleicht sogar tröstend und stabilisierend. Zur gleichen Zeit muss dies eine vollständig neue spirituelle Erfahrung gewesen sein, die er alleine ohne seinen Vater erfahren hat – tiefe Freude, Glück und Mitgefühl mit allen Lebewesen. Möglicherweise hat er das empfunden, was in christlichen Worten die Verbindung mit dem »himmlischen Vater« oder mit dem »Königreich des Himmels« bezeichnet wird.
Auch Thich Nhat Hanh schildert zum Beispiel, wie er während eines Schulausflugs zu einem Berg, auf dem ein Einsiedler leben sollte, ähnlich wie der Buddha als Kind seine erste tiefe spirituelle Erfahrung hatte (sein Alter ist leider nicht angegeben). Er war zunächst enttäuscht, dass er diesen Einsiedler nicht getroffen hatte. Er setzte sich von seinen Freunden ab und lief in den Wald hinein:
»Als ich tiefer in den Wald gelangte, hörte ich auf einmal das Geräusch von tropfendem Wasser. Es war ein so schönes Geräusch. Ich kletterte weiter in Richtung dieses Geräusches und traf schon bald auf einen natürlichen Brunnen, ein kleines Becken, das von großen Steinen aus vielen Farben umgeben war. Das Wasser war so klar, dass ich bis auf den Boden sehen konnte. Ich war sehr durstig und so kniete ich mich hin, schöpfte etwas Wasser in meine Hände und trank es. Das Wasser schmeckte wunderbar. Noch nie hatte ich etwas vergleichbar Köstliches getrunken. Ich fühlte mich vollkommen zufrieden, wollte oder brauchte überhaupt nichts – selbst der Wunsch, dem Einsiedler zu begegnen, war weg. Ich stellte mir vor, dass der Einsiedler sich vielleicht in den Brunnen verwandelt hatte« (Hanh 2017, S. 221).
Daraufhin fiel er in einen tiefen Schlaf. Als er erwachte, sah er die Bäume über sich. Er verabschiedete sich von dem Brunnen und machte sich, noch voll des Wunderns und Staunens, auf die Rückkehr zu seinen Klassenkameraden. Dieses Erlebnis war wirklich ein Wendepunkt:
»Das war meine erste spirituelle Erfahrung. Danach wurde ich ruhiger und stiller. Ich hatte nicht das Bedürfnis, das Geschehen mitzuteilen. Ich wollte es in meinem Herzen bewahren. Mein Wunsch, Mönch zu werden, wurde stärker. Als ich 16 war, gaben mir meine Eltern die Erlaubnis, in den Tu-Hieu-Tempel in der Nähe von Hue einzutreten und dort zunächst als Aspirant, dann als Novize zu praktizieren« (Hanh 2017, S. 225).
Wie bei Siddharta Gautama machte Thich Nath Hanh diese erste spirituelle Erfahrung als Kind in der Natur unter Bäumen. Der Brunnen, aus dem lebensspendendes Wasser aus der Tiefe der Erde kommt, gilt als heiliges Symbol und wird in vielen Kulturen verehrt. Das Wasser ist ein universelles Symbol für das Leben allgemein sowie für das Unbewusste. Auch Thich Nath Hanh hatte sein erstes tiefes spirituelles Erlebnis an einem passenden symbolischen Ort. Er wurde danach vom Schlaf überwältigt und wollte zuerst nicht über das Erfahrene reden. So intensiv muss dieses Erlebnis gewesen sein – genauso wie beim Buddha, der nach seinen tiefen Erfahrungen als Erwachsener gehemmt war zu reden und seine Erlebnisse in Worte zu fassen.
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