Das Ziel dieses Buches ist es, die Assoziationen zwischen kindlicher Spiritualität und den Lehren des Buddha (auch Dharma genannt) zu untersuchen. Die erste Annahme dabei ist, dass alle Menschen (Kinder, Jugendliche und Erwachsene) Zugang zu einer spontanen, persönlichen und natürlichen Spiritualität haben. Obwohl Unterricht und Übung die Wahrscheinlichkeit für spirituelle Erfahrungen erhöhen können, ist die spontane Spiritualität jedoch nicht abhängig von irgendwelchen Bedingungen oder Voraussetzungen wie Alter, Erfahrung oder Training. Sie kann jederzeit und an jedem Ort auftauchen und in ihrem Grad der Ausprägung von leichten bis überwältigenden Erfahrungen mit positiven wie auch negativen Qualitäten variieren. Obwohl sie vorübergehende Erfahrungen darstellen, weisen sie auf universelle Wahrheiten hin, die leicht von Kindern verstanden werden. Die zweite Annahme lautet, dass die spontanen spirituellen Erkenntnisse von Kindern mit den Einsichten, die der Buddha vor vielen Jahrhunderten umrissen hat, übereinstimmen.
Da sich die Erkenntnisse des Buddha über eine so lange Zeit in verschiedenen Ländern entwickelt haben, ist dieses Buch nicht Ausdruck einer spezifischen Schule des Buddhismus, im Gegenteil, es ist nicht an eine buddhistische Konfession oder Richtung gebunden. Buddhistische Traditionen wurden in verschiedenen Kulturen integriert und haben deshalb unterschiedliche Schwerpunkte. In ihren vielen Differenzen tragen sie zu der Vielfalt und dem Reichtum des Buddhismus bei. Trotz aller Unterschiede verweisen sie alle auf die Grundverständnisse und Lehren des Buddha. Wie der amerikanische Dharma-Lehrer Joseph Goldstein eines seiner Bücher passend benannte, es gibt nur ein Dharma. Damit drückt er aus, dass »es eine tiefe gemeinsame Übereinstimmung von befreiender Weisheit gibt, die durch alle Überlieferungen des Buddhismus läuft« (Goldstein 2002, S. 6).
Dieses Buch versucht, eine praxisorientierte Essenz der Lehren des Buddha (d. h. des Dharmas) so zu vermitteln, wie Kinder sie erfahren, d. h. die wesentliche Spiritualität und nicht religiöse oder philosophische Interpretationen. Aus diesem Grund werden primär die ursprünglichen Lehren des Buddha herangezogen und weniger spätere Kommentare.
Das Buch wird drei Themenbereiche verfolgen, die miteinander verbunden und verflochten sind:
Im ersten Teil werden die Verbindungen zwischen Buddhismus und Kindheit untersucht, beginnend mit der eigenen Kindheit des historischen Buddha, gefolgt von seiner Hagiographie und Mythologie. Themen und Hinweise auf Kindheit in seinen Lehren werden aufgegriffen und im historischen, sozialen und psychologischen Zusammenhang aufgezeigt. Das »göttliche Kind« ist eine der Hauptarchetypen in der Psychologie C. G. Jungs und kann Ganzheit, Neuanfang und Erlösung symbolisieren. Der Archetyp des »göttlichen Kindes« ist in anderen Religionen, wie beispielsweise im Hinduismus und Christentum, hochrelevant. Die weniger deutliche Rolle des »göttlichen Kindes« im Buddhismus wird diskutiert, obwohl die zukünftige, weltverändernde Möglichkeit des jungen Siddhartha Gautama schon kurz nach der Geburt erkannt wurde.
Der zweite Teil des Buches wird der Spiritualität und Religiosität von Kindern und Jugendlichen gewidmet und umfasst Definitionen, Häufigkeit, Erscheinungsform und günstige Bedingungen für Spiritualität. Das »Numinose« in der Psychologie C. G. Jungs und Spiritualität sind zwei Begriffe, die synonym verwendet werden können. Die Relevanz der Jung’schen Sicht, um die kindliche Spiritualität in Psychotherapie und im Alltag zu verstehen, wird untersucht.
Im dritten Teil werden Verbindungen und Übereinstimmungen zwischen der natürlichen, spontanen Spiritualität und den Lehren des Buddha dargestellt und diskutiert. Nur die Lehren, die besonders wichtig für Kinder sind, werden detailliert erläutert:
Vergänglichkeit ist einer der wichtigsten Aspekte kindlicher Erkenntnisse und Gedanken: Warum verändert sich alles, warum kann es nicht gleichbleiben, warum folgt der Herbst auf den Sommer und der Tod auf das Leben? Fragen über Leiden werden anschließend behandelt. Weltliche Bedingungen und Hindernisse der Spiritualität sind ebenfalls Teil ihrer täglichen Erfahrungen. Ethik, Gerechtigkeit und Fairness sind echte Besorgnisse vieler Kinder und Jugendlicher. Die Grundlagen der edlen vier Wahrheiten werden aus kindlicher Sicht und Erfahrung erläutert. Dabei liegt der Fokus auf den Lehren des Buddha auf dem mittleren Weg, der in dem achtfachen Pfad ausgedrückt ist. Zum Schluss sind interpersonelle Aspekte der Spiritualität wie Mitgefühl, Empathie mit Lebewesen und liebender Güte offensichtliche und wichtige Einstellungen vieler Kinder.
Das Ziel des Buches ist es, nicht nur die theoretischen Grundlagen der Spiritualität darzulegen, sondern auch Raum für subjektive Erfahrungen und Meinungen, in anderen Worten Raum für den direkten Ausdruck von Kindern zu geben. Aus diesem Grund wurden Zitate vieler Kinder während ihrer Psychotherapie und in anderen Kontexten herangezogen, wo immer sie passten. Andere Quellen umfassen Biografien, Autobiografien, historische Dokumente, wissenschaftliche Veröffentlichungen, Romane, Kinderbücher, Gedichte, Liedtexte und persönliche Erinnerungen. Fotografien und Zeichnungen illustrieren und ergänzen die Einsichten von Kindern. 3
3Obwohl ich kein Künstler bin, habe ich seit meiner Kindheit schon immer gerne fotografiert. Im Alter von 14 Jahren lernte ich Fotos selber zu entwickeln. Ich war immer fasziniert von der langsamen Entstehung von Bildern in den Wannen der Dunkelkammer. Dieser Prozess hat etwas Magisches an sich, wie langsam sich die Grautöne zeigen. Obwohl digitale Fotografie alles vereinfacht hat, bin ich noch immer fasziniert von der Verwandlung eines subjektiven Bildes zu einem Objekt, das geteilt werden und Gefühle und Emotionen ausdrücken kann. Aus diesem Grund ist dieses Buch nicht nur mit persönlichen Erinnerungen und Zitaten angereichert, sondern auch mit vielen Fotografien.
Teil I Buddhismus und Kindheit
1 Die eigene Kindheit des Buddha
Biographien des Buddha
Die Lebensgeschichte des Buddha (563–483 vor Christus) kann leicht zusammengefasst werden. Er wurde als Siddhartha Gautama vor 2500 Jahren um Lumbini geboren, jetzt im südlichen Nepal gelegen. Er war der Sohn eines nordindischen Herrschers. 4 Seine Mutter starb eine Woche nach seiner Geburt, sodass er durch seine Stiefmutter und seinen Vater in materiell luxuriösen Bedingungen versorgt wurde. Als junger Mann, im Alter von 29 Jahren, verließ er seine Frau und sein neugeborenes Kind, um tiefe Einsichten und Verständnis des Lebens zu erlangen. Als ersten spirituellen Zugang wählte er den asketischen Weg. Nachdem er durch Hungern völlig abgemagert war, erkannte er, dass weder Luxus und Verwöhnung noch extreme Einschränkung wirkliche Erkenntnisse eröffnen, sondern nur der sogenannte »mittlere Weg«. Nachdem er wieder zu Kräften gelangt war und für eine lange Zeit unter einem Baum meditierte hatte, kam er im Alter von 35 Jahren zu den entscheidenden tiefen Erkenntnissen, der sogenannten Erleuchtung. Diese waren so ergreifend, dass er zunächst nicht darüber reden wollte. Als er anfing zu lehren, fand der Buddha (der Erleuchtete, wie er jetzt genannt wurde) schnell eine große Zahl von Schülern. Er reiste und teilte seine Weisheiten und Einsichten großzügig mit allen. Er hatte zu der damaligen Zeit das große Glück, das hohe Alter von 80 Jahren zu erlangen und konnte bis zu seinem Tod lehren. Der Kern seiner Lehren ist so praktisch, hilfreich und wertvoll, dass sie weiterhin Menschen in der gesamten Welt ansprechen, selbst bis heute, 2500 Jahre später.
Das ist seine Lebensgeschichte kurz zusammengefasst. Wie John Strong (2009) aufzeigte, gibt es jedoch nicht eine Geschichte des Buddha, sondern viele Biografien mit großen thematischen Variationen und Auswirkungen, abhängig von den historischen Quellen, Übersetzungen und Rückübersetzungen. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Lehren und Reden des Buddha zunächst über viele Jahrhunderte mündlich wiedergegeben und weitergereicht wurden. Erst viel später, ca. 80 Jahre vor Christus, wurden sie niedergeschrieben. Diese zeitlichen Zusammenhänge lassen sich verstehen, wenn man sich vorstellt, dass zum Beispiel die Stücke von William Shakespeare (1564–1616) nur mündlich weitergereicht, gespielt, erzählt, wiederholt übersetzt und erst zu unserer Zeit niedergeschrieben worden wären. Die Grundhandlungen seiner klassischen Stücke wären beibehalten, aber die Sprache und Einzelheiten wären durch diesen Prozess natürlich verändert.
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