1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 Zusammengefasst erleben die meisten Kinder wie Siddhartha Gautama tiefe spirituelle Einsichten, die sie oft in Symbolen, wie dem Rosenapfelbaum, dem Brunnen, dem Nebel oder den Wellen, ausdrücken. Wie wir später sehen werden, erscheinen diese Einsichten spontan, da Kinder und Jugendliche von Anfang an eine natürliche Kapazität zur Spiritualität in sich tragen. Diese Fähigkeit verschwindet nicht, wenn sie erwachsen werden, wie die Biografie des Buddha zeigte. Zwei weitere entscheidende Erfahrungen des Buddha nach seiner Jugend, d. h. als junger Erwachsener, waren die vier Exkursionen (auch bekannt als die vier Zeichen) und die große Abreise – seine Entsagung des bisherigen Lebens.
Bei den vier Exkursionen handelte es sich um eine Serie von Ereignissen, bei denen Siddhartha Gautama seinen Palast verlässt und dabei Alter, Krankheit, Tod und einem weisen Mann begegnet. Diese führen letztendlich dazu, dass er sein bisheriges Leben im Überfluss beendet. Wie Schumann es erzählt, verließ Siddhartha Gautama die Palastmauern viermal in einem Pferdewagen, der von vier Pferden gezogen wurde (Schumann 2004, S. 60). Das erste Mal nahm er wahr, wie ein älterer Mann dem Tode nahe war. Bei den folgenden Ausflügen begegnete er einem kranken Mann, einem Leichnam und einem Mönch. Indem er die Begrenzungen und Veränderungen des Lebens erkannte, festigte sich sein Wunsch, Mönch zu werden. Genau zu diesem Zeitpunkt stand die Geburt seines Sohnes Rahula an.
Wenn man diese Geschichte liest, ist es kaum zu glauben, dass Siddhartha Gautama bis zum Alter von 29 Jahren in einer so beschützten Umgebung aufwachsen konnte. Wenn ich an meine eigene Kindheit in Indien denke, wuchsen wir westlichen Kinder ebenfalls in einem geschützten Rahmen in großen Häusern und wundervollen Gärten auf, die von einer hohen Mauer umringt waren. Nur wenige Meter außerhalb der Mauern konnte das reale, pulsierende und chaotische Leben Indiens erfahren werden. Ich kann mich noch gut an Bettler, Erdnussverkäufer und Leprakranke auf der Straße erinnern ebenso wie an die vielen streunenden heiligen Kühe. Als Kinder versuchten wir wiederholt, von Zeit zu Zeit aus dieser beschützten und begrenzten Umgebung zu entfliehen, indem wir von der Schule zu Fuß nach Hause liefen, obwohl uns dieses streng von unseren Eltern verboten war. Eines Tages sah ich einen Begräbnisumzug in den Straßen, was in Indien ein öffentliches Ereignis darstellt. Ich sah zum ersten Mal einen toten Menschen nicht in einem Sarg, sondern offen in weißem Leinen eingehüllt auf einem Pferdewagen, gefolgt von trauernden Familienangehörigen. Es war die erste Begegnung mit einem Leichnam. Ich muss ca. sieben Jahre alt gewesen sein und war tief berührt durch die Erkenntnis, dass Menschen irgendwann aufhören zu leben und dass das Leben an sich nicht unendlich ist. Das Bild des Leichnams hinterließ einen intensiven Eindruck, der mich seitdem begleitet.
Meine eigenen Ausflüge aus unserer beschützten Umgebung ereigneten sich zu einem viel früheren Alter als die von Siddhartha Gautama – und sie hatten eine viel geringere Auswirkung. Siddhartha Gautama war erschüttert und tief berührt über das, was er gesehen hatte, nämlich universelle und unausweichliche Bedingungen des Lebens, die alle Menschen erfahren, nämlich Alter, Krankheit und Tod sowie die Rolle des Mönches als Beispiel für die spirituelle Suche.
Es muss für Siddhartha Gautama extrem schwierig gewesen sein, seine junge Familie zu verlassen. Man kann sich seine inneren Konflikte und seinen Aufruhr gut vorstellen. Wie Schumann (2004) beschreibt, war es Siddhartha Gautama nicht möglich, seinen gerade neugeborenen Sohn anzuschauen oder zu berühren, aus Angst, dass er es dann nicht schaffen würde, zu gehen. Stattdessen floh er um Mitternacht auf seinem Pferd in Begleitung eines treuen Dieners. Seine Frau Yasodhara schlief mit seinem neugeborenen Sohn Rahula in ihren Armen, als er seine junge Familie für immer verließ.
Heutzutage ist es schwer sich vorzustellen, dass Siddhartha Gautama seinen Sohn tatsächlich Rahula nannte, ein Name der wörtlich »Fessel«, »Zwang«, »Einschränkung«, »Kette« und »Beschränkung« bedeutet – kein schöner Name für ein junges Baby. Man begegnet solchen negativen Projektionen oft in der Psychotherapie oder Familienberatung, gerade wenn Eltern negative Gefühle der Missgunst und Ablehnung gegenüber ihrem eigenen Kind in sich tragen. Diese negativen Projektionen können so ausgeprägt sein, dass selbst junge Kinder mit Namen wie Monster, Tyrann oder Sargnagel benannt werden.
Siddhartha Gautama muss intensiv gespürt haben, dass ein Familienleben seine spirituelle Berufung behindern würden. Andererseits war das Opfer seiner eigenen jungen Familie gewaltig. Diese Aufgabe wurde im Laufe der Zeit zu einem Ideal der spirituellen Entsagung stilisiert. Allerdings kann man diesen Schritt auch sehr kritisch sehen, wenn er wörtlich befolgt wird, wie Sasson es beschreibt: »Der zukünftige Buddha verlässt seinen neugeborenen Sohn einem abstrakten Ideal zuliebe« (Sasson 2013, S. 2) und schafft dabei ein Rollenmodell für das Verlassen von Kindern. Während Siddhartha Gautama anscheinend keine andere Möglichkeit sah für seinen spirituellen Weg, ist dieses Vorbild der Entsagung der Familie keine Voraussetzung für ein spirituelles Leben. Im Gegenteil, es ist sowohl eine Herausforderung als auch eine wirkliche spirituelle Aufgabe, Kinder aufzuziehen, ihr Wachstum zu begleiten und an dem Wunder ihrer Entwicklung teilzuhaben, wie das Paar Kabat-Zinn es in ihrem beeindruckenden Buch zur Elternschaft beschrieb:
»Kindererziehung ist eine der anspruchsvollsten, herausforderndsten und belastendsten Aufgaben auf diesem Planeten. Sie ist auch eine der wichtigsten, denn so, wie sie umgesetzt wird, wird zum großen Teil das Herz und die Seele und das Bewusstsein der nächsten Generation beeinflusst …« (Kabat-Zinn und Kabat-Zinn 1997, S. 13).
In seinem Essay mit dem Titel »Der Buddha und seine dysfunktionale Familie« analysierte Titmuss (2015a) kritisch die Familienbeziehungen von Siddhartha Gautama. Das Erleben von Verlassenwerden, der Verlust seiner Mutter und Konflikte mit seinem Vater können zu einer dysfunktionalen Familiendynamik beigetragen haben, kombiniert mit ambivalenten Gefühlen gegenüber längeren, verbindlichen Beziehungen. Es kann weiterhin spekuliert werden, dass die eigenen Kindheitserfahrungen von Siddhartha Gautama ein Grund für die Vernachlässigung der Themen zur Kindheit in seinem Leben und seinen Lehren sein könnte.
Wie verlief Siddhartha Gautamas Leben nachdem er sein Zuhause und seine luxuriöse Umgebung als Prinz verlassen hatte? Nach den Berichten von Schumann (2016) schnitt er seine Haare ab und verbrachte die ersten Tage als Wandermönch im Freien, auf der Suche nach einem Lehrer. Sein erster Lehrer war ein Mann namens Alara Kalama, aber er war mit seinen traditionellen Lehren zur Meditation nicht zufrieden. Sein zweiter Lehrer war ein Mann namens Uddaka Ramapotta, aber wieder konnte er die Fragen seiner Suche mit diesem Lehrer nicht zufriedenstellend beantworten. Nach Schumann (2004) dauerten seine Studien mit diesen zwei Lehrern nicht länger als ein Jahr.
Der nächste Schritt von Siddhartha Gautama war es, sich ganz in den Wald zurückzuziehen. Im Alter von 30 Jahren begann er seine asketischen Übungen. Unter anderem versuchte er das Denken zu verhindern, seinen Atem so lange wie möglich anzuhalten, selbst zur kalten Jahreszeit auf Kleidung zu verzichten, so lange wie möglich aufrecht zu stehen und natürlich nicht zu essen. Seine Hungerversuche waren so extrem, dass er dem Tod nahe war. In dieser Zeit gewann er fünf Anhänger, die seine Askese, seine Disziplin und Härte bewunderten.
Im Zustand der extremen Kachexie erkannte er, dass Abmagerung, Peinigung und Marterung nicht hilfreich waren, um wirkliche Weisheit zu erlangen. Zu diesem Zeitpunkt begann er wieder zu essen. Es ist interessant, dass er sich gerade dann an seine erste wichtige Kindheitserfahrung der tiefen Absorption erinnerte, als er unter dem Rosenapfelbaum saß, während sein Vater pflügte. Diese Erinnerung war zum Zeitpunkt seiner höchsten körperlichen Auszehrung der Wendepunkt, der ihn zum Leben zurückführte, wie Schumann es erläuterte:
Читать дальше