Diese Wahrnehmung bildete für mich nur das letzte Glied einer Gedankenkette, an der ich schon die ganze Zeit schmiedete. Irgend etwas bereitete sich hier vor; das war klar! War Olga, wie ich annahm, wirklich eine Agentin der Polizei und im Einverständnisse mit dem alten Fuchs, so musste der junge Russe offenbar ein Nihilist sein, den sie in’s Garn gelockt hatte! Und so sah er auch aus. Er hatte etwas von einem Karl Moor an sich ... ein eleganter, melancholischer Revolutionär. Dann hatte auch Olga einen Grund, mich einzuladen! Die Gegenwart eines Fremden, eines Ausländers, musste ja in Arkad jeden Verdacht verscheuchen, dass er sich seinen geborenen Feinden gegenüber befinde.
Ehrlich gesagt, ich war meiner Sache gar nicht sicher, und sie kam mir durchaus nicht geheuer vor. Aber es lag doch ein eigener Reiz darin, sich in fremdem Lande auf solch geheimnisvollen Pfaden zu bewegen. Und ich riskierte ja nichts. Gerade gegenüber lag mein Hotel, ich selbst trug einen Revolver bei mir, Menschen ringsum ... was sollte da vorfallen? So blieb ich denn sitzen, erwartungsvoll wie der Jäger auf dem Anstand.
„Entschuldigen Sie,“ wandte sich Olga zu mir, „es ist recht unhöflich von uns, Sie zehn Minuten lang mit unserem Russisch zu langweilen. Ich hatte soviel von Konstantinopel zu erzählen. Aber sagen Sie, bitte, sind Sie einverstanden, wenn wir jetzt dinieren? Es fängt schon an zu dunkeln.“
„Ich bedaure,“ erwiderte ich unschlüssig, „ich möchte mich nicht weit vom Hotel entfernen.“
„Das ist auch gar nicht nötig,“ meinte Olga und wies auf ein grosses, gerade vor uns liegendes Restaurant, „gehen wir dorthin, besser können Sie es nicht treffen.“ Und damit schob sie ihren Arm in meinen. Die beiden Russen gingen voraus.
Diese Vertraulichkeit befremdete mich wieder. ‚Am Ende‘, stieg es in mir auf, während wir langsam durch das Gewühl schritten, ‚sind das alles nur Hirngespinste, ist Olga nichts mehr oder weniger als eine der vielen fahrenden Schönheiten des Ostens?‘ In diesem Augenblick kreuzte ein alter General unseren Weg. Er fasste Olga scharf ins Auge und lüftete dann, mit verbindlichem Lächeln, seine weisse Mütze. Nein ... so grüsst man nur Damen der Gesellschaft! Und doch musste der Seemann heute irgendeinen Grund gehabt haben, diese elegante junge Dame aus tiefster Überzeugung nach Sibirien zu wünschen ... also ... Immer wieder kehrten meine Gedanken zu der dritten Abteilung zurück.
„Olga Féodorowna,“ sagte ich, stehen bleibend, „wer sind Sie?“
Olga schien meine Frage überhören zu wollen; sie schlüpfte rasch über den breiten Fahrdamm, auf dem die Iswoschtschiks in ihren unförmlich auswattierten, mit bunter Schärpe gegürteten Röcken, mit weit vorgestreckten Armen die Zügel haltend, ihre kleinen, offenen Wagen dahinsausen liessen. Gleich darauf waren wir in dem Restaurant. Die beiden Herren hatten bereits in einem kleinen Extrazimmer, hinten am Korridor, Platz genommen. Als ich das hörte, hatte ich gute Lust, umzukehren. Aber man macht sich nicht gern lächerlich, und ich beschloss, mich unter allen Umständen sofort nach dem Essen zu entfernen. Mochten dann die beiden Arkad Wassiljéwitsch verraten, — denn darauf schien mir doch die ganze Sache hinauszulaufen —, mich ging das nichts weiter an. Olga musterte übrigens beim Eintreten ihren Geliebten, der bereits am Tische sass, mit einem erschreckend kalten, prüfenden Blicke, der meinen Verdacht bestätigte. Dann wandte sie sich zu dem Greis und sagte ihm ein paar Worte auf russisch. Der Alte nickte lächelnd und schaute auf Arkad. Und es war mir einen Moment, als sähe ich an dem verhängten Fenster unseres Zimmers ein paar dunkle Schatten sich hin und her bewegen. Sollte ich nicht doch Arkad warnen? Vielleicht hatte er gar nichts verbrochen, war das Opfer eines Irrtums. Ich entschied mich dafür. Die erste Gelegenheit wollte ich benutzen und dann ins Hotel zurückkehren.
Inzwischen setzten wir uns zu Tisch.
Solch eine russische Tafel ist eine durchaus nicht zu verachtende Sache, und unter anderen Umständen hätte ich ihr gewiss mehr Ehre angetan. Es war alles recht gut: die Sakuska, das aus Kaviar, kleinen Fischen, mariniertem Stör, kalten Eiern, eingemachten Pilzen und tausend anderen Sachen bestehende Vorgericht; dann der Schtschi, die berühmte Kohlsuppe mit den heissen, fleischgefüllten Pastetchen; das blendend weisse Stück Sterlet, mit aufrecht stehenden Krebsschwänzen garniert; das unvermeidliche Boeuf à la Stroganoff, jene wohlschmeckende Mischung von gedünstetem Fleisch, Champignons und Kartoffeln; und die jungen Steppenhühner mit dem ‚Saft‘, den eingemachten Früchten aus Kiew. Dazu tranken wir Champagner. Olga wollte es nicht anders. Es sei der einzige Wein, meinte sie, den man in Russland nicht fälsche, da man die Flaschen nicht öffnen könne. Sie trank ein Glas nach dem andern und wurde munter und gesprächig.
Allmählich war so die Stimmung gewichen, die anfangs über unserer Tafelrunde lag. Olga plauderte und lachte über die Versuche ihrer Freunde, sich deutsch auszudrücken; sie berichtete von unserm Eisenbahnunfall; sie erzählte von Konstantinopel, von dem Nebel, von tausend Dingen, und sie wurde beinahe wehmütig bei dem Gedanken, nun wieder nach Saratow zurückzukehren, an die Ufer der Wolga, in das Herz des heiligen Russlands, wohin die gleissende Kultur des Westens noch nicht gedrungen.
So kam das Ende des Diners. Olga schickte den schlitzäugigen tartarischen Kellner weg und präsentierte uns selbst den Kaffee. Die unvermeidlichen Zigaretten füllten den kleinen Raum mit dem Parfüm des bessarabischen Tabaks. Die Lichter flimmerten auf dem Tische. Es war eigentlich ganz gemütlich. Nur Arkad sass schweigend und finster da.
Ich benutzte den Moment, wo Olga auf dem Tablett den Nalifka, den süssen Fruchtlikör, eingoss. „Ich gehe jetzt,“ sagte ich leise und deutlich zu Arkad, „nehmen Sie sich in acht!“
Er schien mich nicht verstanden zu haben. Sein Gesicht nahm einen fragenden Ausdruck an.
„Ich warne Sie,“ wiederholte ich recht langsam; „Sie sind von Feinden umringt.“
„Belieben Sie ...!“ Olga streckte mir über meine Schulter das Tablett hin, auf dem mein Likörglas stand.
Ich nahm es dankend in Empfang. Das Zeug schmeckte recht gut. Olga goss mir, halb zerstreut mit dem Alten plaudernd, ein zweites Glas ein.
Als ich dieses getrunken hatte, wollte ich nochmals Arkad aufklären. Ich wandte mich zu ihm und sah ganz erstaunt, dass sein Auge mit einem ernsten, forschenden Ausdruck auf mir ruhte. Es wurde still am Tisch. Und dann blickten mich auch die anderen gespannt an.
*
Ich weiss nicht, ob Sie einmal einen jener Kater gehabt haben, die man sich nur in früher Jugend erwerben kann, solange der Magen noch nicht an Spirituosen gewöhnt ist. Es ist ein furchtbarer Zustand: Kopfschmerz, Übelkeit, Schwindel, völlige Erschlaffung, Lebensüberdruss, — kurz, die Empfindungen eines Menschen, der aus Versehen irgendein Gift verschluckt hat.
In diesem Zustand erwachte ich tags darauf in meinem Gasthofzimmer.
Gegen Mitternacht waren, wie sich später ergab, zwei Hausdiener des Restaurants im Hotel mit der Anfrage erschienen, ob ein fremder Herr, der schon die ganze Nacht durchaus betrunken in einem Extrazimmer liege, etwa hier zu Hause sei. Seine Gesellschaft habe ihn abends verlassen, ohne sich viel um ihn zu kümmern, und gemeint, er werde seinen Rausch schon ausschlafen.
Der Hotelportier aber war eine argwöhnische Natur. Er liess nicht nur den Fremdling, sondern bei dessen Anblick auch einen Doktor holen.
„Seien Sie froh!“ sagte der Arzt, ein geschmeidiger junger Pole, zu mir, während er meinen Puls fühlte, „Sie werden von dem Narkotikum, das Sie mit dem Likör hinunterschluckten, keinen bleibenden Schaden haben. Ihr Geld dürften Sie freilich nicht wiedersehen.“
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