Die Erwachsenen indes erschrecken über Johannas Schönheit, über die Tiefe, die seit dem Tag am Feenbaum, an dem Gott mit ihr sprach, in ihren Augen wohnt. Gepaart mit einer Art fremden Wildheit, die man kaum kennt. Sie kann sich über die Knaben werfen, ihnen Gesicht und Schläfen versehren, erzählt man sich im Dorf. Ja, Johanna ist eine Kämpferin.
»Rühr mich nicht an!«, sagt eines Tages ein Knabe.
Er ist arm, er hat Knochenarme. Seine Augen sind fremdartig, fast sieht er aus wie eine Pflanze. Was tut Johanna da? Sie schlägt ihn. So erzählt man es sich jedenfalls im Dorf. Und dass sie gesagt hätte, diese Idee käme von Gott! So eine störrische kleine Magd! Und auch die Eltern berichten, dass Johanna hin und wieder tobt. Vor allem, wenn man sie frisieren will. Denn abends ist Johannas Haar widerspenstig. Sie hat zu viel gerauft. In einem Knoten muss es schließlich gefesselt werden. Das mag das Kind nicht.
Doch damit nicht genug. Johanna kann auch sehr rechthaberisch sein.
»Das Abendgebet!«, ruft Johanna eines Abends aus, als sie dem Priester des Dorfes auf der Straße begegnet.
»Ja?«, meint der und sieht das Mädchen fragend an.
»Sie haben die Glocke nicht geläutet!«, sagt das Mädchen stramm.
»Ehrlich?«
»Ja! Sonst kehre ich nämlich immerzu um, Herr Pfarrer, und lauf zu ihnen.«
Der Pfarrer lächelt. Nun muss er sich sogar von einem Kind ausschelten lassen! Seltsam, denkt er und betrachtet die kleine Johanna.
»Ich schenke Euch Wolle, wenn Ihr in Zukunft Eurer Pflicht besser nachkommen wollt!«, verspricht Johanna. Erstaunt betrachtet er die junge Frau. In der Kirche liegt sie manchmal mit dem Gesicht zum Boden gewandt da, seltsam verdreht. Die Augen auf das Bild des heiligen Christus gerichtet.
In dieser Zeit entdeckt Johanna ihre Magie. Sie hat mit der Großmutter zu tun und mit dem Feenbaum und Gottes Stimme. Doch sie ist ein Geheimnis. Eines, das es vor den Freunden und der Familie zu verbergen gilt. Johanna wallfahrtet zur Kathedrale, gemeinsam mit ihrer Schwester Catherine. Kerzen nehmen sie mit, entzünden sie unter dem Gnadenbild. Das liebt Johanna, sie liebt es ganz besonders. Doch sie muss ihre Stimme schützen und auch die Heiligen, von denen die Großmutter ihr immer erzählt hat. So berichtet sie niemandem davon. Gott kann immer nur heimlich sein, weiß Johanna inzwischen Bescheid. Und auch die Heiligen. Drei besuchen sie jetzt mit ihrer Stimmen: Barbara, Katharina und Margaretha. Von ihnen hat schon die Großmutter erzählt und sie sind Johanna inzwischen sehr lieb. Aber auch über ihre Stimmen wird geschwiegen. Süß ist der Duft, der Johanna entgegenstrebt, wenn sie an diesen besonderen Tagen beim Feenbaum sitzt und nachdenkt. Sie riecht schon die Engel, die jetzt noch Vorhänge sind. Später werden sie realer und realer sein. Irgendwann wird Johanna sagen: »Ich sah sie mit den Augen meines Körpers, so deutlich, wie ich euch sehe!« Das wird sie denen sagen, die sie anklagen. Jetzt aber wartet Johanna, denn die Stimmen sind noch weit weg und offenbaren sich nur langsam. Zu unklar und unreif ist alles noch, zu unfrei die kleine Johanna. Sie muss erst erwachsen werden, muss kämpfen lernen und reden in der Sprache der Menschen. Johanna aber ist ungeduldig, wenn sie auf die Stimme Gottes wartet.
Im darauffolgenden Winter stirbt die Großmutter, in Johanna lebt sie weiter. Und Johanna tut es dem Wind und dem Winter gleich, lernt von ihm, wie sie von Gott lernt: Wind, Sturm, Schneeweiß sind jetzt ihre heimlichen Namen. Und Winterstille liegt da, wo der Wind steht, es ist ein Raum in Johanna. Da geht die Jungfrau jetzt hin, betet und singt. Das Gebet des Winters ist der nächste Weg zum Licht, denkt Johanna.
»Alles wird wieder heil, lieber Gott, oder?«
Und manchmal kommt eine Antwort:
»Ja!«
Bald befragt man Johanna zu ihrer Familie .
»Deine Eltern …«, will Cauchon wissen .
Johanna zieht eine Augenbraue in die Höhe, sie sieht jetzt wieder stärker aus. Es ist, als hätte das Brot sie zu Kräften kommen lassen .
»Ja?«, fragt Johanna .
»Warum hast du ihnen von der Abreise nichts gesagt, Johanna?«, will der Bischof wissen, während er seine glänzenden Ringe betrachtet, die er sich an die schwieligen Finger geheftet hat .
»Damals, als du aufgebrochen bist, um in die Schlacht gegen die Engländer zu ziehen?«
Johanna hat etwas von einem Jüngling. Gleichsam knabenkühn erscheint sie ihm. Loyseleur muss lächeln .
»Die Stimmen haben mir kein Stillschweigen auferlegt, nein«, entgegnet Johanna zögerlich. Ihr Widerstand scheint gewichen .
Ob es damit zu tun hat, dass er ihr das Brot angeboten hat?
»Hattest du keine Angst?«, will Cauchon wissen .
Johanna schüttelt den Kopf .
»Aber die Burgunder …«, fährt sie dann zögerlich fort .
Warwicks Gockelhals hüpft. Nun ergreift er das Wort .
»Was?«, geifert er mit hackender Stimme .
Und da geschieht es, mit einem Mal. Johanna wendet ihm den Blick zu, sieht ihn an und lächelt .
Fast sanft ist sie geworden, ganz plötzlich. Ihre Stimme ist voller Aufrichtigkeit, als sie fortfährt:
»Vor denen hatte ich Angst. Ihr versteht.«
»Ja?«
»Und besonders hatte ich Angst, mein Vater könnte mich vielleicht daran hindern, die Reise anzutreten. Vielleicht habe ich deshalb geschwiegen!«
Cauchons Körper wabbelt, während er sich vorbeugt, erstaunt von so viel Sanftmut. Seine Stimme klingt schleimig, erinnert an Kriechspuren, die Schnecken auf dem Erdboden ziehen, als er weiter in sie eindringt:
»Verstehe. Und du denkst, du hast rechtens gehandelt, einfach so aufzubrechen? Ohne Vater und Mutter etwas zu sagen?«
Johanna zuckt mit den Achseln. Hell und klar steht sie da, die Hände in den Fesseln vor ihrem Körper herhaltend .
»Nun ja – wenn Gott es gewollt hat!«, sagt sie .
»Wie?«
Warwick zieht eine Augenbraue in die Höhe, seine Stimme ist gackernd, hackend wie ein Beil. Er scheint sie anzuzweifeln. Sofort wird Johanna wieder zornig .
»Na, da hätte ich doch wohl hundert Väter und hundert Mütter haben können, oder?«, entgegnet sie und beginnt, mit den Armen zu fuchteln. Das Klirren von Ketten ist zu hören .
»Wie?«
Johanna lacht auf .
»Nun, ich meine, wenn Gott es befohlen hat?«, fragt sie erneut und immer noch ist ihre Unschuld bestechend. Loyseleur merkt, wie er wieder lächeln muss. Es scheint, als wäre das Eis gebrochen. Das Brot hat Johanna zahm gemacht. Sie wird beginnen, ihm zu vertrauen. Denn sie spricht ohne Hohn, versucht ehrlich, sich zu offenbaren. Oder?
»Ohne Erlaubnis jedenfalls. Da bist du gegangen. Einfach so, nach Neufchâteau!«
Cauchon versucht, mehr zu erfahren .
»Ja!«, entgegnet Johanna wahrheitsgemäß und klappt ihre Augen auf und zu .
»Du bist aber sehr eitel gewesen in der Wahl der Männerkleidung«, meint da der zweite Inquisitor und reckt erneut seinen Gockelhals. Heute ist Warwick wirklich schlecht gelaunt, denkt Loyseleur .
»So gar nicht demütig, Johanna?«
Sie zuckt mit den Schultern .
Für einen Moment ist es still. Man scheint nicht zu wissen, wie man weiter vorgehen soll .
»Als ich erstmals die Stimme hörte, gelobte ich Jungfräulichkeit, solang es Gott gefiele!«, sagt Johanna .
Warwick indes wird wütend, denn am liebsten wäre ihm eine spröde Jungfrau, die man sofort hinrichten lassen kann, er will kurzen Prozess machen .
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