Den Schülerinnen der zwölften Klasse wurde es ganz anders zu Mute, als sie sich von diesen durchdringenden grauen Augen gemustert sahen. Selbst Helga wurde es ziemlich mulmig, als er sie, wie alle anderen, nach ihrem Namen fragte.
Alle hatten sich für die erste Begegnung herausgeputzt, trugen ihre engsten Röcke, die dazu passenden Pullis und hatten so viel Make-up aufgelegt, dass sie Fräulein von Zirpitz’ Kontrolle nur im Halbschatten zu passieren wagten.
Dr. Herbert Jung schien gegenüber all diesen Reizen völlig unempfänglich zu sein. Er stürzte sich sofort auf das Pensum und ließ seine Blicke nie tiefer als bis zur Augenhöhe seiner Schülerinnen gleiten, sodass es gar keinen Zweck hatte, sich in Positur zu werfen.
Aber gerade diese Gleichgültigkeit machte ihn noch anziehender. Tweedy war der einzige gut aussehende Mann in jüngeren Jahren im Schlossinternat, und die anfängliche Begeisterung der Mädchen steigerte sich bald in Schwärmerei.
Margot knipste ihn heimlich und trug sein Foto Tag und Nacht in einem goldenen Medaillon auf der Brust.
Kicki, die pummelige Chinesin, tätowierte sich seinen Spitznamen mit einem Tintenstift auf den Unterarm. Uschi gelang es, ihm einen Faden aus der Tweedjacke zu ziehen, den sie wie eine Reliquie aufbewahrte.
Vier Wochen später wurde der erste Aufsatz geschrieben. Dr. Herbert Jung stellte ein Thema zur eigenen Wahl frei, als Zweites die Beschreibung eines Kupferstiches und als Drittes ein Zitat aus Goethes »Faust«.
Die Mädchen versuchten, so weit sie sich in Tweedys verwirrender Gegenwart konzentrieren konnten, mit ihrem Geist zu glänzen.
Danach, in der großen Pause, sagte Helga zu ihrer Freundin. »Gott, bin ich froh! Mir ist eine Menge eingefallen. Was für ein Thema hast du denn gewählt?«
»Ich habe Tweedy einen Liebesbrief geschrieben«, erklärte Yvonne mit größter Selbstverständlichkeit.
Yvonne war überzeugt, mit ihrem Liebesbrief in Aufsatzform alle Rivalinnen bravourös aus dem Feld geschlagen zu haben.
Aber in der Nacht sah die Sache auf einmal ganz anders aus. In der Dunkelheit ihres Zimmers wurde jeder Satz des fatalen Aufsatzes zu einem Albdruck. War sie nicht doch zu weit gegangen?
Ruhelos warf sie sich hin und her und bemühte sich verzweifelt, endlich Schlaf zu finden.
Helga war dadurch wach geworden. »Denkst du an den Aufsatz?« fragte sie endlich.
»Du hast es erfasst«, gab Yvonne zu, mit einem Anflug ihrer gewohnten Kessheit.
»Was mache ich bloß, wenn Tweedy meine Liebeserklärung in den falschen Hals kriegt?«
»So viel Humor wird er schon noch auf Lager haben, deinen verrückten Einfall nicht krumm zu nehmen.«
Doch Yvonne war nicht so leicht zu beruhigen. »Und wenn er nun meine Eltern antanzen lässt?«
»Ich bitte dich! Erstens tut er das nicht, denn es wäre eine Bankrotterklärung seiner pädagogischen Fähigkeiten, und zweitens … du kannst doch einfach so tun, als ob du ihn hättest hochnehmen wollen!«
Statt einer Antwort seufzte Yvonne tief.
Dr. Herbert Jung ließ sich Zeit mit dem Korrigieren der Aufsätze.
Helga lebte in ständiger Sorge, dass der umschwärmte Lehrer Yvonne tatsächlich einen schweren Verweis erteilen könnte. Yvonne dagegen, deren Optimismus mit dem hellen Tag wieder erwacht war, hoffte und wartete darauf, dass er sie beiseite nehmen und in einem privaten Gespräch auf ihr Geständnis eingehen würde.
Dann, an einem Montagmorgen – Deutsch war in der letzten Stunde –, betrat Tweedy mit dem Packen Aufsatzhefte die Klasse und legte sie schweigend auf den Lehrertisch. Er schien die Nervosität der Mädchen gar nicht zu bemerken und forderte sie ruhig auf, ihren »Faust« an der Stelle aufzuschlagen, wo sie das letzte Mal stehen geblieben waren.
Erst fünf Minuten vor Unterrichtsschluss warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und bat Babsy, die Hefte auszuteilen. Während sie von Tisch zu Tisch ging, erklärte Dr. Jung beiläufig: »Die Arbeiten sind im Großen und Ganzen recht nett ausgefallen. Ich bin zufrieden, meine Damen.«
Er hatte sämtliche Arbeiten nicht benotet.
Ein paar Tage lang regnete es, erst gegen Ende der Woche riss die Wolkendecke auf. Yvonne, Babsy und Ellen beschlossen, in der nachmittäglichen Freizeit auszureiten. Sie forderten Helga auf, mitzukommen. Aber da sie, wie meistens, ziemlich knapp bei Kasse war, konnte sie sich den Spaß nicht leisten und gab vor, keine Lust zu haben.
Sie zog sich mit einem Buch in den Park zurück, und vertiefte sich in ihre Lektüre, Science-Fiction, so packend geschrieben, dass sie sich eifrig auch durch allzu wissenschaftliche Passagen kämpfte. Sie brütete gerade über einer physikalischen Beschreibung, als sie durch eine vertraute männliche Stimme aufgeschreckt wurde. »Na, Helga, ist es nicht ein bisschen zu kühl für ein Nickerchen im Freien?« fragte Dr. Herbert Jung.
Das Herz klopfte Helga bis zum Halse, als sie langsam aufsah und antwortete: »Ich schlafe nicht, Herr Doktor, ich denke nach.«
»Tatsächlich?«
Sie klappte das Buch zu und ließ ihn den Umschlag sehen. »Ich kann’s nicht so einfach herunterlesen. Manches ist ziemlich hoch.«
Er nahm ihr das Buch aus der Hand und blätterte darin. »Sie interessieren sich für so etwas? Alle Achtung!«
»Ich interessiere mich eigentlich für alles«, behauptete Helga. Obwohl er sie nicht ansah, hatte sie das Gefühl, dass er sich über sie amüsierte, und sie fügte hastig hinzu: »Sie lachen. Es klingt so entsetzlich überheblich. Aber ich fühle mich von allem, was in der Welt vorgeht, betroffen, und finde es faszinierend und spannend.«
»Ich lache Sie keineswegs aus, Helga«, erwiderte er mit seltsam sanfter Stimme. »Ich habe schon öfter bemerkt, dass Sie ungewöhnlich wach und intelligent sind, und das gefällt mir an Ihnen.«
Sein Lob überraschte sie und machte sie gleichzeitig verlegen. »Alle in unserer Klasse sind so«, behauptet sie, »wir diskutieren über die unmöglichsten Themen.« Sie stand auf. »Aber ich muss jetzt gehen.«
»Schon?«
Helga traute ihren Ohren nicht. Sie hatte sich immer für ein nüchtern denkendes Mädchen gehalten. Aber jetzt kam es ihr tatsächlich so vor, als ob Dr. Jung sich für sie interessierte. Oder hatte Yvonnes überspannte Fantasie sie angesteckt?
Er gab ihr das Buch zurück. »Ich hätte gerne mit Ihnen über Ihren Aufsatz gesprochen. Kommen Sie, machen Sie mit mir einen kleinen Bummel durch den Park, so viel Zeit werden Sie schon noch haben.« »Doch, gerne«, antwortete sie nach kurzem Zögern glücklich.
Sie gingen ein paar Schritte nebeneinander her, und da sie immer nur ihn anschauen musste – sein männliches Profil mit der markanten Nase und der breiten Stirn –, stolperte sie plötzlich über eine Baumwurzel und wäre hingefallen, wenn er sie nicht aufgefangen hätte.
Sie spürte die Arme des geliebten Lehrers, ihre Wange berührte den rauen Tweed seiner Jacke, und der herbe Geruch seines Rasierwassers stieg ihr in die Nase.
Als er sie losließ, fühlte sie sich taumelig und war über und über rot geworden. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie.
»Was denn?« fragte er lächelnd. »Hauptsache, Sie haben sich nicht weh getan. Kommen Sie, gehen wir!«
Erleichtert folgte sie ihm in den herbstlichen Park. Weder Helga noch Dr. Herbert Jung ahnten, dass sie vom Schloss aus beobachtet worden waren.
Yvonne, Babsy und Ellen waren vorzeitig vom Pferdestall zurückgekehrt.
Als Yvonne in ihr Schlafzimmer gekommen war, hatte sie das Fenster aufgerissen, um Helga unten im Park auf sich aufmerksam zu machen.
Aber genau in diesem Augenblick war Tweedy auf der Bildfläche erschienen. Einen Augenblick lang war Yvonne wie vom Donner gerührt. Dann rief sie nach Babsy und Ellen, die sofort alarmiert herbeistürzten. Alle drei beobachteten, wie Helga in Dr. Jungs Arme gefallen war – von oben hatte es ganz so ausgesehen -, und es hatte ihnen den Atem verschlagen. Erst als die beiden aus ihrer Sicht verschwunden waren, fand Yvonne die Sprache wieder: »So eine Kanaille!« stieß sie wütend hervor; sie war blass und bebte vor Wut.
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