Und er wollte in dieser Minute alles liegen- und stehenlassen, zurückfahren, die Verteidigung abgeben. Riesengroß wurde die Versuchung … niemand konnte von ihm verlangen, daß er, der Amerikaner, der Offizier, in dem Dunkel dieser abscheulichen Verbrechen herumstocherte.
Evans stieß auf einen belgischen Waldarbeiter, einen Mann mit gutmütigem Gesicht, das noch jetzt jede Farbe verlor, wenn er wiedergab, was er mit eigenen Augen gesehen hatte.
„Ich spreche deutsch“, sagte er zum Oberst, „ich verstand jedes Wort. Ich hatte mich in ein Dickicht verkrochen, neben dem es passierte. Ein SS-Mann in Unteroffiziersuniform hatte einen amerikanischen Soldaten eingeholt. Es war schrecklich.“
Der Oberst nickte.
„Der Mann zerrte den Amerikaner auf die Beine, zog die Pistole und lachte. ,Einen Schuß für Mutti‘, sagte er und schoß in das linke Bein.
Der GI brach zusammen.
,Und der für Vati‘, fuhr der Mörder, noch immer lächelnd fort, zielte und durchschoß das rechte Bein.
Der Soldat hatte große, flehende Augen und schrie, schrie, daß ich mir die Ohren zuhielt.
,Und eine Braut hast du sicher auch‘, stieß der Mörder hervor, ,und das ist für sie.‘ Wieder drückte er ab. Wieder knallte ein Schuß.
Ich wollte hinstürzen. Ich war blind vor Haß und Zorn. Aber ich konnte nichts machen. Ich erlebte es aus nächster Nähe, ich sah, wie der Mörder auf den Unterleib zielte. Ich sah sein Gesicht.“ Der Waldarbeiter machte eine Pause. „Ich sehe es immer noch. Wochenlang träumte ich davon. Und selbst jetzt noch erscheint es mir mitunter.“
„Wie sah der Mörder aus. Um Gottes willen, sprechen Sie doch! Wie sah die Bestie aus“, unterbrach Oberst Evans den Arbeiter.
Hastig und mit zitternden Händen warf er seine Fotos auf den Tisch. Der Zeuge nahm Bild für Bild in die Hand, starrte sie an, schüttelte jedes Mal den Kopf.
„Er ist nicht dabei“, antwortete er dann, „ich habe die Fratze nicht vergessen. Ich erkenne sie unter tausend Gesichtern wieder.“ Er zuckte mit den Schultern, „aber hier ist er nicht darunter. Leider.“
Der Oberst zweifelte an Gott, an der Welt, am Fortschritt, an der Menschheit. Er zweifelte an allen Idealen, denen er bisher gelebt hatte, als er von Malmedy zurückfuhr. Er war angeschlagen, angeekelt, erschüttert, verzweifelt. Er war müde, zerschlagen, leergebrannt. Er war unfähig, noch etwas zu begreifen, zu verstehen, zu fassen.
Und er war entschlossen, trotzdem die Verteidigung der Malmedy-Angeklagten zu übernehmen, soweit er sie für unschuldig hielt …
Aber er stand allein. Ein Mann, ein Mensch, ein Fanatiker des Rechts in einer Flut von Blut, Intrige, Mord, Folter und Verbrechen. Auf beiden Seiten. Hüben wie drüben. Zwischen deutschen und amerikanischen Verbrechen … denn die Gemeinheit ist an keine Sprache, an kein Land, an keine Farbe gebunden. Sie ist international.
Die Weltherrschaft des Teufels.
Werner Eckstadt lief der Schweiß über das Gesicht. Er lag auf dem Rücken und starrte gegen die Decke, immer auf den gleichen Fleck, bis er sich durch seine Augennässe verwischte. Er biß sich auf die Zunge, bis sie blutete. Er krallte die Nägel in das Fleisch. Der körperliche Schmerz tat ihm fast wohl. Was war er, gemessen an der Qual seiner Gedanken.
Werner haßte sich. Jetzt hängen sie dich mit Recht, dachte er verbissen, ganz mit Recht. Und sie sollen, sie werden sich einen Dreck drum kümmern, ob du unschuldig bist. Du hast Menschen, die dich schätzen, die dich lieben, die dir helfen wollten, vor den Kopf gestoßen. Du hast nicht gesehen, wie viele Sorgen sie sich um dich machten, was sie alles für dich taten. Du hast nur ihre hauchdünnen Nylonstrümpfe betrachtet und deinen dreckigen Vorstellungen freien Lauf gelassen … Kaugummi, Schokolade, Zigaretten, Strümpfe, Fräuleins. Und sie sollen dich auslöschen, denn du bist ein Cornedbeef auf anderer Ebene …
Alles sollte gut werden, und alles ist falsch gelaufen. Ein paar Monate Haft hatten genügt, seinen Lebenswillen auszulöschen. Er hatte sich damit abgefunden, daß er stellvertretend für Verbrecher büßen sollte. Jetzt aber, nach dieser Begegnung, war es vorbei. Die Sucht, der Drang weiterzuleben, da wieder zu beginnen, wo er einmal aufgehört hatte, waren da. Hoffnung gesellte sich dazu. Zum Sterben zuviel, zum Leben zuwenig Hoffnung.
Jetzt, unmittelbar vor dem Prozeß, wurde das Essen besser, die Behandlung menschlicher. Aber Werner rührte nichts an. Er sprach mit niemandem. Er saß auf seiner Pritsche und grübelte. Wenn es niemand sah, weinte er. Mitunter schrie er im Schlaf auf, fluchte oder versuchte zu beten. Seine Arme griffen nach Brigitte. Sie griffen ins Leere. Hundertmal rechnete er sich aus, was er hätte sagen müssen, und jedesmal biß er sich hinterher auf die Zunge. Alle gingen ihm aus dem Weg.
Als Colonel Evans von Malmedy zurückkommt, am Vorabend des Prozesses gewissermaßen, findet er Werner völlig verändert vor. Haftpsychose, denkt der Oberst. Aber dann begreift er, daß es etwas anderes ist.
„Sie hatten Besuch?“ fragt er.
„Ja“, versetzt Werner knapp.
„Ihre Schwester ist ein nettes Mädchen“, fährt der Oberst fort, „und sehr tapfer. Denken Sie an sie. Vielleicht geht es Ihnen dann besser.“
Werner nickt.
„Nun reißen Sie sich zusammen, Mann. Das ist ein Anfang. Die Verhandlung wird nicht schön. Eine verdammt dumme Sache, Ihr Geständnis. Ich weiß nicht, wie das Urteil ausgeht. Ich mache Ihnen gar keine Hoffnung … aber etwas kann ich Ihnen versichern: Ich hole Sie ’raus. Auch noch nach der Verurteilung.“
„Warum tun Sie das alles für mich?“ fragt Werner.
„Denken Sie sich, was Sie wollen“, versetzt der Oberst kalt. Er betrachtet seine Fingernägel. „Nicht Ihnen zuliebe, obwohl Sie mir ganz gut gefallen. Nicht wegen Ihrer Schwester, die mir noch besser gefällt … Glauben Sie an Gott?“
„Mitunter“, antwortet Werner.
„Ich glaube an ihn und deshalb glaube ich auch an den Menschen … trotz Malmedy. Aber lassen wir das. Zurück zu damals. Sie begannen also Ihren Einsatz in einem Tigerpanzer?“
Werner starrt vor sich hin. In seinem Gesicht zuckt es. Seine Hände verkrampfen sich. Er stiert auf den Boden, wagt es nicht, den Oberst anzusehen.
„Wie hieß der Kompaniechef?“ fragt der Oberst weiter.
In dieser Sekunde bricht Werner Eckstadt zusammen. Er stützt den Kopf auf die Hände, sein Gesicht verzerrt sich, sein Atem geht stoßweise.
„Was haben Sie denn?“ fragt Evans barsch.
Werner richtet sich auf. Der Krampf läßt allmählich nach.
„Ich muß Ihnen etwas gestehen, Sir“, antwortet er langsam. „Dann sind Sie ein für alle Mal mit mir fertig. Aber ich muß es Ihnen sagen. Sie sind … Sie sind der erste Amerikaner, der anständig zu mir war … und ich habe Sie angelogen, Sir …“
„Was?“ schreit Colonel Evans.
„Ja“, erwidert Werner, „und jetzt sollen Sie erst alles erfahren. Ich war gar nicht in dem Panzer. Zuerst wenigstens nicht. Ich kam mit dem Flugzeug … in amerikanischer Uniform … Sabotagetrupp …“
„So“, erwidert der Oberst. Er betrachtet Werner von oben bis unten. Endlos. Die Zeit bleibt stehen. Er sagt nichts. Sein Gesicht ist ruhig wie seine Hände. Er sieht und sieht auf Werner, durch ihn hindurch.
„Und dann?“ fragt er.
„Dann war alles so, wie ich es Ihnen berichtete.“
Der Oberst tritt an das Fenster, sieht hinaus. Er kehrt Werner den Rücken, dreht sich langsam um, zündet sich eine Zigarette an. Das Streichholz verfehlt zweimal die Reibfläche.
„Sir, ich bitte Sie, mich nicht zu verteidigen“, sagt Werner leise. „Niemand kann Ihnen das zumuten … nun wissen Sie alles.“
Werner Eckstadt hebt den Kopf, als ob er seiner verlorenen Stimme nachhorchen wollte. Er schluckt. Seine Augen kleben im Niemandsland. In dieser Sekunde hängt er wieder an den Gurten des Fallschirms, gleitet lautlos zur Erde, landet im Dorfteich bei dem Transformatorenhäuschen, spürt den Stiefelabsatz des bulligen MP-Mannes, wird aus dem Stroh gezerrt, zu Boden geprügelt, abgeführt.
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