Ich lüge, denkt er, mein Gott, ich lüge. Ich muß lügen. Ich muß es einfach. Lieber Gott, laß es sie merken, laß sie etwas erwidern, reiß diese Mauer ein, laß mich aufwachen, laß mich ihr sagen, was ich denke, fühle, hoffe, glaube … trotz alledem.
Da geht die Türe auf. Der Leutnant des Bewachungskommandos grinst. Der Sergeant ebenfalls.
„Bißchen kurz, drei Minuten“, sagt er zu Tebster.
Der CIC-Offizier wird rot vor Ärger, denn er hat begriffen, für welchen Zweck der Leutnant die Zeit knapp fand.
Brigittes Gesicht ist ohne Ausdruck, ohne Leben.
Aber Vera hat sich in der kurzen Zeit draußen zusammengenommen. Sie ist entschlossen, den furchtbaren Druck, das Falsche, das Verlogene zu überbrücken. Sie spricht darauf los wie ein Wasserfall. Sie redet fiebrig über alles hinweg, spricht vom Alltag und von Lebensmittelkarten und davon, daß Tante Erna schön grüßen läßt …
Werner ist ihr dankbar, obwohl er gar nicht zuhört. Noch dankbarer ist er seinem Bewacher, der das Handgelenk hochhebt und mit dem Finger auf die Armbanduhr tippt.
Schöne Uhr, denkt Werner mechanisch, und er stellt fest, daß es eine Pilotenuhr der deutschen Luftwaffe ist.
In diesem Augenblick geht Tebster auf Werner zu. Er schiebt einfach den Kaugummi von einer Seite auf die andere. Er haut Werner Eckstadt auf die Schulter, packt ihn mit der Hand im Genick. Es ist eine warme, gute, trockene Hand …
„Take it easy“, sagt der Leutnant, „nimm’s nicht so schwer.“ Er hat eine rauhe Stimme und flucht kurz und bündig: „Verdammt!“
Werner schluckt.
„Wir kommen bald wieder“, sagt Vera.
„Sicher“, antwortet Werner.
„Und verlaß dich drauf“, fährt Vera fort, „wir holen dich hier heraus. In einem Vierteljahr lachst du drüber.“
„Sicher“, erwidert Werner zerstreut.
Und Vera senkt den Kopf und verläßt sehr schnell den Raum. Als Brigitte ganz dicht an ihm vorbeigeht, bewegt Werner die Lippen. Aber er kann nichts mehr sagen, weil ihm ein dicker Kloß die Kehle zupreßt, seit ihm der amerikanische Leutnant Tebster ins Genick faßte und schüttelte, und seitdem er spürte, daß das eine einfache, ehrliche Geste war … Und auch Brigitte findet kein Wort, wirkt fast erleichtert, daß sie aus dem Raum herauskommt, daß sie Werner nicht mehr zu sehen braucht, den Mann, den sie liebt, trotz alledem. Und jetzt, Sekunden später, Sekunden zu spät, wird ihr einfallen, was sie alles zu sagen vergaß, was sie nie mehr vergessen wird, wenn sie jemals eine zweite Chance hätte.
Als die vier wieder in dem Wagen sitzen, sagt Vera:
„Wir hätten nicht hierherkommen dürfen. Noch nicht …“
Niemand gibt ihr Antwort. Von Dachau bis München flucht Leutnant Tebster in unregelmäßigen Abständen vor sich hin …
Diesmal wurde Colonel Evans im Hauptquartier der amerikanischen Armee in Heidelberg sofort beim Zwei-Sterne-General Simson vorgelassen.
„Hallo!“ rief der General schon von weitem, während er langsam die zu lang geratenen Beine von der Schreibtischplatte nahm. „Wie geht’s, Colonel?“ Er lachte. „Haben Sie nun endlich Ihre verdammte Sprechkarte gekriegt?“
„Jawohl, Sir.“
„Na also … Kommen Sie, mein Lieber, wir gehen in den Club. Ich habe einen französischen Koch engagiert. Solche Steaks haben Sie noch nie gegessen.“
„Jawohl, Sir.“
Der General ließ sich an einem reservierten Tisch nieder und las umständlich und genußfroh die Speisekarte. Er bestellte eine Flasche Mosel, blinzelte dem Colonel zu.
„Das Beste an Deutschland ist der Mosel. Ich bin eigens hingefahren und habe 50 Flaschen eingekauft. Sie werden staunen, Oberst.“
„Gewiß, Sir.“
„Sind Sie nicht so dienstlich, Evans … Nehmen Sie Schildkrötensuppe voraus?“
„Gerne.“
„Wie geht’s denn in München?“
„Danke.“
„Und wann gehen Sie in die Staaten zurück?“
„Ich weiß es noch nicht, Sir.“
„Na, mir pressiert es auch nicht mehr … Bleibt’s beim Steak?“
„Die Sache ist die, Sir“, begann Evans, „ich komme bei meinen Ermittlungen nicht weiter.“
„Nehmen Sie die Pommes frites. Ausgezeichnet. Und jetzt will ich nichts von Ihrem verdammten Prozeß hören. Mein Arzt hat mir verboten, beim Essen über Probleme zu reden.“
„Entschuldigung, Sir.“
Der General aß mit schweigendem Behagen. Er war für zwei Dinge berühmt: für verwegene Panzerangriffe und verfeinerten Geschmack. Das erste brachte ihm drei Reihen Orden, das zweite zehn Pfund Übergewicht, die er mit Golfspiel bekämpfte.
„Wie geht es Ihrer Familie?“ fragte er beim Nachtisch.
„Danke, Sir … Darf ich jetzt zur Sache kommen?“
„Erst noch die Zigarre. Oder ziehen Sie Zigaretten vor?“
Evans nahm eine Zigarre und sah auf die Uhr. Der General bemerkte es verdrossen.
„Na, dann schießen Sie los mit Ihrem Ärger.“
„Ich habe die Verteidigung im Malmedy-Case übernommen …“
„Das weiß ich“, knurrte Simson.
„Und was ich übernehme, übernehme ich ganz.“
„Weiß ich auch.“
„Ich muß nach Malmedy fahren, Sir. Ich muß mit den Zeugen sprechen. Ich muß mir ein klares Bild von der Geschichte machen können.“
„Na, dann fahren Sie doch.“
„Ich brauche Autos, Rechercheure … Ich brauche Geld.“
Jetzt wurde der General ärgerlich.
„Ein Auto haben Sie, recherchieren können Sie selbst, Oberst, wenn Sie schon überall Ihre Nase ’reinstecken müssen. Geld? … Sind Sie verrückt geworden? Meinen Sie, die Armee gibt noch Geld dafür aus, daß Sie diese verdammten Kriegsverbrecher vom Strick abschneiden? … Was ist mit Ihnen los, Evans, wissen Sie denn nicht, was bei Malmedy passiert ist? Ich warne Sie! Sie haben sich in den Fall verbissen!“ Der General stand auf. „Aber glauben Sie nicht, daß die Armee auch noch Geld für Ihre Marotten ausgibt!“
„Sir“, entgegnete Evans stockend, „das ist eine Beschneidung der Verteidigung.“
„Von mir aus ist es, was es will! … Ich mag Sie gern, Evans. Ich halte viel von Ihnen …“ Er lächelte belustigt. „Wenn ich mal in eine dumme Sache gerate, Sie werden mein Verteidiger, verlassen Sie sich darauf.“ Der Ton des Generals schlug plötzlich um. Seine Stimme wurde schneidend und barsch: „Doch eines merken Sie sich ein für alle Mal: die Armee hat kein Geld für die Verteidigung ihrer eigenen Mörder! Das ist mein letztes Wort, Colonel.“
Schon als sich der Oberst beim General frostig verabschiedete, wußte er, was er zu tun hatte. In seiner gradlinigen Art blieb ihm keine andere Wahl. Er fuhr von Heidelberg direkt nach Malmedy. Er bezahlte es selbst. Nicht nur das. Jahrelang wird er weiterkämpfen, wird fast sein gesamtes Privatvermögen opfern, wird mehr als hunderttausend Dollar ausgeben, damit unschuldige Männer gerettet werden, die einer verbrecherischen Organisation angehörten, die die Feinde seines Landes waren. Er wird es nicht einmal für sie tun … auch wenn es ihnen zugute kommt. Er wird es tun, damit auf Amerika kein Makel fällt. Er will beweisen, daß die Cornedbeefs die schlechtesten Amerikaner sind, eine winzige Minderheit krimineller Schläger, die es überall auf der Welt, in allen Ländern, in allen Armeen, unter allen Flaggen gibt.
So kam der Oberst zum erstenmal nach Malmedy, sprach mit Zeugen, sondierte scharf und unerbittlich, ließ die schrecklichen Erlebnisse, den berechtigten Haß der Bewohner über sich ergehen, stand mit zusammengebissenen Zähnen an der Wegkreuzung, schluckte das Unfaßbare, das Grauenhafte, das Ungeheuerliche noch einmal. Er widerlegte falsche Aussagen, zerpflückte fahrlässige, nahm die Zeugen in die Zange, wieder und wieder, ließ ihren Unwillen über sich ergehen, wurde selbst unwillig und begann wieder von neuem, von vorne. Er entwirrte mit unendlicher Geduld das Netz von Lüge, Verrat, Verbrechen und Zufall. Es lief ihm heiß den Rücken hinab, als er abermals erfuhr, was er schon wußte. Die Hilferufe der niedergemetzelten Soldaten gellten in seinen Ohren. Ihre toten Augen sahen ihn an.
Читать дальше