Im Hollywood-Film spielt der von dem Drehbuchlehrer Syd Field so genannte Plot Point eine wichtige Rolle. Dieser Begriff steht für eine Überraschung im Lauf einer Handlung, welche hierdurch verkompliziert wird. Der Zuschauer muß ein bestimmtes Ereignis erwarten, und dann geschieht etwas, was seine Erwartung verändert.
Ich will das Gesagte an Beispielen verdeutlichen. Ein Meister des Plot war der englische Schriftsteller Roald Dahl (1916–1990), und eine seiner schönsten Kurzgeschichten, die mit einem perfekten Plot endet, entstammt einer Strafrechtsübung, die mein akademischer Lehrer, der Strafrechtsprofessor und Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann anno 1949 an der Universität Heidelberg ausgegeben hatte. Wir Strafrechtler verbringen einen Gutteil unserer Zeit damit, uns solche Fälle auszudenken, von denen schon Lichtenberg gesagt hat, es gebe in unserer Schulweisheit Fälle, von denen Himmel und Erde sich nichts träumen liessen. Die Geschichte trägt den Titel »Mrs. Bixby und der Mantel des Oberst.« Sie, liebe Leser, sollten diese Story (und andere von Dahl) im englischen Originaltext lesen. Sie ist veröffentlicht in einem Buch mit dem Titel »Kiss Kiss« und beginnt wie folgt:
»America is the land of opportunitiesfor women. Already they own about eighty-five per cent of the wealth of the nation. Soon they will have it all. Divorce has become a lucrative process, simple to arrange and easy to forget; and ambitious femals can repeat it as often as they please andparlay their winnings to astronomical figues. The husband's dead also brings satisfactory rewards and some ladies prefer to rely upon this method. They know that the waiting period will not be unduly protracted, for overwork and hypertension are bound to get the poor devil before long, and he will die at his desk with a bottle of benzedrines in one hand and a packet of tranquillizers in the other.«
Nun die Story: Mr. und Mrs. Bixby bewohnten ein kleines Apartment in New York City. Mr. Bixby war Zahnarzt mit einem durchschnittlichen Einkommen. Mrs. Bixby war “a big vigorous woman with a wet mouth.« Einmal im Monat fuhr sie mit dem Zug nach Baltimore, um ihre alte Tante zu besuchen. Sie verbrachte dort die Nacht und kehrte am nächsten Morgen zurück. So weit so gut. Die Tante war aber nur ein Vorwand. “The dirty dog, in the shape of a gentleman known as the Colonel, was lurking slyly in the background and our heroine spent the greate rpart of her Baltimore time in this scoundrel’s Company.« So vergingen acht Jahre. Eines Tages, als sie am Bahnhof Baltimore auf den Zug nach New York wartete, stand dort der Bursche des Oberst und überreichte ihr ein großes Paket. Im Zug öffnete sie es und fand zweierlei. Einen Abschiedsbrief des Colonel und einen Traum von einem Nerzmantel. Das erstere betrübte sie, das letztere half ihr über die Betrübnis hinweg. Die Frage war nur: Wie sollte sie das Mrs. Bixby erklären? Der Colonel schlug in seinem Brief vor, sie solle ihn als Geschenk ihrer Tante bezeichnen. Die war aber viel zu arm, um ihr ein solches Geschenk zu machen, und ihr Mann wusste das. Sie hatte viel und oft von ihrer Tante erzählt. Wir alle reden zuviel und bereuen es oftmals.
Doch eine Frau weiß immer Rat. Mrs. Bixby brachte den Nerz nach ihrer Ankunft in New York in ein Pfandhaus, erzählte dem Pfandleiher, sie bräuchte vorübergehend Bargeld und erhielt fünfzig Dollar dafür, obwohl der Mantel mehr als das Hundertfache wert war. Dann brachte sie den Pfandschein, auf dem nur eine Nummer vermerkt war, Mr. Bixby. Sie erzählte von ihrem Besuch bei der Tante, und er erzählte ihr die spannende Geschichte, wie er die Zeit ihrer Abwesenheit genutzt hatte, um einige Inlays herzustellen. Dann gab sie ihm den Pfandschein, den sie angeblich gefunden hatte, und er bestand darauf, ihn selbst für sie einzulösen. Am nächsten Morgen fuhr er in seine Praxis. Eine Stunde später rief er sie an und sagte ihr, er habe das Pfand eingelöst. »Darling, Du wirst Augen machen!« Bebend vor freudiger Erwartung fuhr sie in die Praxis. »Schließ die Augen« sagte er. »Es ist etwas Wundervolles – ein Nerz.« Sie tat, wie geheißen, und als er sie dann aufforderte, ihre Augen zu öffneten – was sah sie? “There was no coat. There was only a ridiculous little fur neckpiece dangling from her husband’s hand.« Es gab einen Wortwechsel, den sie aber in Anbetracht ihrer Lage nicht gewinnen konnte. Also verließ sie die Praxis, »slamming the door behind her. At this precise Moment, Miss Pulteney, the secretary-assistent, came sailing the corridor on her way to lunch. ›Is’nt it a gorgeous day?‹ Miss Pulteney said, as she went by flashing a smile. There was a lilt in her walk, a little whiff of perfume attending her, and she looked like a queen, just exactly like a queen in the beautiful black mink that the Colonel had given to Mrs. Bixby.«
Ich habe diesen Fall mit meinem Lieblingsplot an der Universität einmal in einer Strafrechtsübung für Anfänger zur Bearbeitung ausgegeben, wobei natürlich deutsches Recht anzuwenden war. Also, Zahnarzt Dr. Schäufele in Stuttgart, Tante und Oberst in Plüderhausen, wobei aus dem Oberst ein Schraubenproduktionsweltmarktführer wurde, ansonsten alles gleich. In der Vorstellung des Dr. Schäufele war der Pfandschein eine fremde Sache, so daß seine liebe Frau in seiner Vorstellung insoweit eine Fundunterschlagung gemäß § 246 Abs. 1, 3 StGB begangen hatte, wobei nach der sog. Sachwerttheorie, die im Unterschied zur Substanztheorie anzuerkennen ist (so treffend Haft, Strafrecht Besonderer Teil, passim und ihm folgend die herrschende Rechtsprechung und das Schrifttum; abweichend nur Müller-Seibermann in Der Niedersächsische Rechtspfleger 1947, Seitenzahl vergessen), nicht der Pfandschein, sondern die darin verkörperte Sache, also der Nerzmantel, Tatobjekt war. Dieser Irrtum könnte eine versuchte Hehlerei, §259 Abs. 1, 3 StGB des Dr. Schäufele zur Folge gehabt haben, wobei ein untauglicher Versuch in Frage kam und erneut das Problem entstand, ob bereits der Erwerb des Pfandscheins ein »Sichverschaffen« im Sinne des Gesetzes dargestellt hat oder ob eine Hehlerei am Pfandschein vorlag. Wie schon gesagt, es muß im Krimi nicht immer und Mord und Totschlag gehen. Ich will das nicht weiter ausführen; die Fachleute wissen was ich meine, und die übrigen verstehen es ohnehin nicht. Die Studenten haben sehr gejammert und gefragt, warum denn Frau Schäufele nicht behauptet hat, sie habe den Nerzmantel auf der Straße gefunden, wo ja in Plüderhausen bekanntlich alles mögliche herumliegt. Ich habe diese Attacken abgewehrt, das Leben passe sich nun einmal nicht den Nöten der Studenten an. Ich will das hier aber, wie gesagt, nicht weiter ausführen, da wir hier ja nicht Strafrecht betreiben.
Roald Dahl hat viele weitere schöne Plots erfunden. Ein weiteres Beispiel aus seinen Onkel Oswald Geschichten möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. Onkel Oswald war ein reicher Müßiggänger, der für jede Schnapsidee zu haben war. Solche Leute gab es früher in England. Eines Tages begegnete ihm ein Olfaktor, also, wie Sie natürlich wissen, ein Mensch, der den Geruchssinn erforschte. Wie Sie ebenfalls wissen, nennt man diese wissenschaftliche Disziplin Osmologie oder auch Osphresiologie. Unser Forscher – nennen wir ihn F – behauptete, er könne ein Parfum erfinden, das jeden Mann, der auch nur einige Partikel davon in seine Nase bekäme, in ein rasendes Sexungeheuer verwandeln würde. Unweigerlich würde er über die nächstbeste Frau herfallen. Onkel Oswald war skeptisch, aber nach einem kleinen Selbstversuch, der damit endete, daß er sich die Kleider vom Leib riss und nach einer Frau Ausschau haltend umherraste, war er von der Erfindung überzeugt und finanzierte sie. Für ihren praktischen Einsatz sah er die Jahresversammlung der US-amerikanischen Frauenbewegung im Waldorf-Astoria Hotel in New York vor, auf welcher der US-Präsident eine Rede halten sollte. Ein Tropfen des Parfums wurde in einer dünnen Glaskapsel eingeschmolzen, welche an einer Orchidee befestigt war, die Onkel Oswald vor der Veranstaltung bei der Präsidentin des Frauenkomitees angeblich im Namen des Präsidenten übergeben wollte. Die Kapsel sollte sich in dem Augenblick öffnen, in dem der Präsident die Leiterin der Frauenbewegung nach amerikanischer Sitte auf der Bühne umarmen würde, worauf sich der Präsident die Kleider vom Leib reißen und über die füllige Matronen herfallen sollte, was alle Fernsehsender des Landes live übertragen würden. So weit, so gut der Plan. Aber wie schon Moltke richtig bemerkt hat, überlebt selbst der beste Plan nicht die erste Feindberührung. Bei der Übergabe der Orchidee im Hotelzimmer kam es zu einer kleinen Panne und Onkel Oswald war es, der im Sexualrausch über die Präsidentin der Töchter der amerikanischen Revolution in ihrer Hotelsuite herfiel – eine stattliche Fregatte mit wogendem Busen, die gut hundert Stein wog, und die derlei gewiss noch niemals erlebt hatte. Nach fünf Minuten war der Rausch vorbei und die erfreute Lady sprach würdevoll: »Junger Mann, ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie wollten. Aber jedenfalls war es ein erstaunliches Erlebnis.«
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