Dann wurde es aber immer obskurer. Ob Jesus sich die Schuhe zubinden konnte, ohne hinzuschauen, oder ob er vielleicht schwul war. Die Schüler grölten, weil ich rot anlief und krampfhaft versuchte, eine gute Antwort zu finden, die es gar nicht gab. Die Situation überforderte mich damals komplett. Und sie löste in mir natürlich eine Angstattacke aus, die ich nicht mehr beherrschen konnte. Knallrot angelaufen, im Körper eine Überdosis Adrenalin und schweißgebadet brach ich die Schulstunde nach der Hälfte der Zeit ab. Der zuständige Lehrer schritt leider nicht ein, vielleicht hatte er sogar mehr Angst als ich. Ich war mit der Situation komplett überfordert. Danach hatte ich mir eins ganz fest vorgenommen: nie wieder Schuleinsätze!
Der Leitungskreis der Schneeberger Gemeinde weiß natürlich nichts von meinem Schwur und absagen kann ich jetzt auch nicht mehr. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass Köln nicht Schneeberg ist und die Jugendlichen mich vielleicht freundlicher aufnehmen werden als die aus der viertgrößten Stadt Deutschlands.
In der Klasse angekommen, verspüre ich sofort wieder den Adrenalinanstieg im Blut. Das Lampenfieber kommt. Meine hektischen Flecken am Hals sind nun für jeden sichtbar, und das ist mir extrem peinlich. Meine Ängste sind, wie ich finde, in dieser Situation vollkommen berechtigt. Niemand mag es, wenn eine Gruppe von jungen Menschen die eigene Unsicherheit spürt. Das fühlt sich mies an. Ich versuche, das Lampenfieber zu übertünchen, mache ein paar trockene Sprüche, die aber meine starke Nervosität nur noch mehr aufzeigen. Schließlich stelle ich den Schülern mit einer PowerPoint-Präsentation kurz das Projekt Volxbibel vor. Alle hören mir mehr oder minder aufmerksam zu und nach einer Weile wird meine Angst etwas weniger. In diesen Lampenfiebersituationen hilft eine Präsentation mit Folien sehr, weil sie einem Skript gleichkommt, dem man stur folgen kann, egal, wie man sich fühlt.
»Im nächsten Teil möchte ich mit euch ein kleines Experiment wagen. Ich gebe euch hier in Kopie einen ganz berühmten Text aus der Bergpredigt. Jesus sagt dort einige extreme Worte zum Thema Gewalt. Ich habe von eurer Klassenlehrerin gehört, dass ihr an der Schule gerade ein Problem mit Gewalt auf dem Schulhof habt, ist das richtig?« Einige Schüler nicken, besonders die Mädchen. »Teilt euch bitte in fünf Gruppen auf und versucht diesen Text einmal zu vervolxbibeln. Das heißt, dass ihr ihn in eure eigenen Worte umformulieren sollt, mit Bildern, die ihr benutzen würdet. Es soll in eurer Sprache vom Schulhof ausgedrückt werden, was Jesus hier eigentlich sagen will. Versteht ihr?« Die Klasse macht erstaunlich gut mit. Ich bin erleichtert, denn das pädagogische Werkzeug, Jugendliche für eine Aufgabe zu motivieren, habe ich eigentlich nicht. Und es beruhigt mich ungemein zu sehen, dass ich die Jugendlichen beschäftigen kann.
An den fünf Tischen herrscht ein reges Treiben. Ich gehe durch den Raum und kann die Diskussionen mitverfolgen. Teilweise ringen die Schüler richtig um einzelne Formulierungen, wie schön. Am Ende bitte ich die Jugendlichen, einen Vorleser aus jeder Gruppe zu bestimmen, der das Ergebnis in Form einer Lesung der Klasse vorträgt. Als Erstes kommt ein kleiner blonder Junge nach vorne. »Wir haben uns lange darüber unterhalten, was man aus dem Vers machen kann: ›Und wenn jemand dir auf die rechte Backe schlagen wird, dem biete auch die andere dar‹ (Matthäus 5,39). Unser Ergebnis ist so: ›Jesus sprach: Und wenn dir jemand auf die Fresse haut, dann sag ihm, dass er dir auch noch mal in den Magen boxen soll.‹« Staunendes Gelächter in der Klasse. Ich lobe das Ergebnis, denn es trifft die Aussage Jesu nach meinem Verständnis sehr gut.
Schließlich kommt die letzte Gruppe nach vorn. »Wir haben uns Folgendes überlegt: Bei uns kam es schon vor, dass Jungs aus den höheren Klassen unsere Handys abgezogen haben. Darum ist unsere Übertragung so: ›Jesus sprach: Und wenn dir jemand das iPhone klaut, dann schenke ihm deinen iPad noch dazu!‹«. Super, genau das ist es! Lauter Applaus in der Klasse und auch ich bin schwer begeistert. Nach dem Unterricht verlassen wir die Schule und gehen fröhlich zum Mittagessen. Das war schon mal ein guter Einstieg.
Nachmittags geht es dann weiter. Der Abendgottesdienst mit der Jugend aus dem Nachbarort ist wieder sehr voll. Ich wurde vom Veranstalter angefragt, die Predigt zu halten, und das mache ich sehr gern. Auch wenn das aus meinem Mund komisch klingt, es ist für so einen kleinen Ort immer ein Ereignis, wenn jemand aus der Hauptstadt anreist, um dort zu predigen. Das zieht mehr Leute an und die Erwartungen sind dementsprechend groß. Trotzdem ist die Angst sehr viel weniger als sonst. Relativ locker stehe ich vorn und predige zu den jungen Menschen. Später frage ich mich, ob es vielleicht so eine Art Adrenalinspeicher im Körper gibt. Wenn der erst einmal ausgeschüttet ist, braucht es eine Weile, bis sich neues Adrenalin gebildet hat. Vielleicht könnte das eine Lösung für meine Panikattacken sein? Einfach ein paar Stunden vor einer Veranstaltung eine aufregende Sache machen, um das ganze Adrenalin zu verpulvern? Klingt gut, ich werde die Idee weiterverfolgen.
Abends bin ich ganz schön kaputt und schlafe schnell ein. Nach dem Frühstück am nächsten Morgen bittet mich der Jugendleiter der Gemeinde zu einem besonderen Einsatz. Es geht um einen jungen Mann aus der Gemeinde, der schwer drogenabhängig ist. Wir sollen ihn besuchen und ich soll mit ihm reden. Auf dem Weg dorthin erzählt mir der Leiter, dass die Eltern ihn in der Woche zuvor um Hilfe gebeten hätten. Der Junge verschanze sich tagsüber seit Wochen in seinem Zimmer. Nur nachts gehe er raus, um sich neue Drogen zu beschaffen. Sie wüssten einfach nicht mehr weiter und hätten den Pastor immer wieder um Rat gebeten. Und dieser hat nun mich engagiert, um das Problem zu lösen. Ich empfinde es als eine absolute Überforderung.
Nach einer langen Fahrt kommen wir beim Haus an. Nachdem wir das Auto geparkt haben, betreten wir die Einfahrt, wo wir von den Eltern gleich begrüßt werden. Die Mutter des Jungen macht auf mich einen sehr verzweifelten Eindruck. »Herr Dreyer, Sie müssen uns helfen! Bitte sprechen Sie mit unserem Jungen! Sagen Sie ihm, dass dieser Weg in den Tod führt! Wir wollen unseren Sohn nicht verlieren!« Um ehrlich zu sein, fühle ich mich überrumpelt. Immer wieder begegnen mir in meinem Dienst solche überhöhten Erwartungen. Eltern, die glauben, Martin Dreyer müsste nur einmal mit ihrem Kind reden und anschließend hört dieses sofort auf, Drogen zu nehmen, wird ein ordentlicher Mensch und absolviert im nächsten Jahr sein Abitur mit Auszeichnung. So ein Quatsch. Niemand kann so etwas bewirken und ich erst recht nicht. Weil ich aber zum Dienen nach Schneeberg komme, kann und will ich mich der dringenden Bitte der Eltern nicht entsagen.
Gemeinsam gehen wir die Treppe zum Dachboden hoch, auf dem der Sohn seinen eigenen Wohnbereich von den Eltern bekommen hat. Wir klopfen an die Tür und hören nur ein lautes Klappern und Rascheln. Die Mutter versucht die Tür zu öffnen, aber sie ist abgeschlossen. »Hey! Ich will dir nichts tun! Ich möchte nur mit dir reden!«, rufe ich durch das Schlüsselloch. Keine Antwort. Plötzlich hört man einen Knall, so als würde ein Fenster aufgestoßen werden. Die Mutter öffnet die Tür mit einem Zweitschlüssel, und wir sehen noch den Schatten von ihrem Sohn, wie er aus dem Fenster nach draußen springt. Er landet auf dem Boden und flieht schnellen Schrittes in den umliegenden Wald.
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