Wie gesagt, die Beleuchtung im kleinen Arbeitsatelier ist um diese Zeit aus Kostengründen eingeschränkt, umso deutlicher nimmt Zwirn Gerüche auf. Der Zusammenhang ist naturgemäß völlig eingebildet, doch seitdem Frau Wang den Knopf ihrer Uniformjacke geöffnet hat, strömt der so schwache wie lockende Geruch von Zimt und Vanille allein aus dem Oberteil der Uniform seiner Lehrerin. Behauptet jedenfalls die Nase von Leo Zwirn.
»Lass uns das Thema wechseln«, sagt Frau Wang, »welche politischen Losungen, welche Plakate sind dir seit deiner Ankunft in den Straßen unserer Stadt noch aufgefallen?«
Im Nachbarraum klingelt das Diensttelefon, Frau Wang erhebt sich und schreitet zum Apparat.
Zwirn lehnt sich zurück und lässt verschiedene Straßenszenen durch die Erinnerung ziehen. Manche Bilder sind grau, andere bereits verschwommen oder nur noch in kleinen Details erhalten: der Straßenmusiker vor dem Kino etwa, der auf seiner zweisaitigen Kniegeige schräg, aber erkennbar eine Melodie aus der Oper »Pique Dame« spielt, die Obstverkäuferin, die für ihre Kunden ein Schälmesser bereithält, das mit einer langen Kette an der Ladenkasse hängt, die beiden jungen Mädchen, die mit ihren Füßen einen Ball in der Luft tanzen lassen, in dem eine schmutzige Feder steckt.
Aber eine politische Losung? Doch, jetzt erinnert sich Zwirn an ein Plakat zur Geburtenpolitik, das ihm an der Wand rechts neben dem Obstladen aufgefallen ist. Es zeigt zwei überaus gut genährte Babys, gekleidet jeweils in ein prachtvolles blaues und ein strahlend rotes Gewand, ihre Köpfe sind geschoren bis auf eine pechschwarze Glückslocke, die wie ein kleiner Rüssel vom prallen Hinterkopf in den Himmel weist.
Zwirn hat das Bild fasziniert, einmal, weil es künstlerisch so platt und eindeutig ist und keinem konventionellen Gebot der Ästhetik folgt, zum anderen, weil es ihn an einen seiner künstlerischen Helden erinnert, nämlich an die Arbeiten des New Yorker Malers Jasper Johns. Die fünf, sehr opulent in Gold glänzenden und in Halbrelief ausgestalteten Schriftzeichen unter dem Bild der Babys hatte Zwirn sich in sein Notizbuch kopiert und noch am selben Abend dort auch die Übersetzung »Viel Zeugen ist eine gute Sache!« eingetragen.
›Der Spruch ist, recht besehen, genauso befriedigend und überzeugend wie das Bild des Amerikaners‹, dachte Zwirn und fügte diesen Gedanken seiner Flaschenpost nach Leningrad hinzu. Diesmal wieder in einem Brief an seinen Vetter Sascha, der ihn als Erster auf die Arbeiten des Amerikaners und ihre Bedeutung als Ikone der modernen Kunst aufmerksam gemacht hat.
»Also, welche Losung ist dir aufgefallen?« Frau Wang schaut ihren Schützling weiterhin mit freundlich aufgeschlossener Erwartung an. ›Ihre Stimme‹, denkt Zwirn, ›hat jetzt wieder die Anmutung von warmem Lehm auf einer Töpferschale, der eine tänzerische Gestalt annimmt.‹
»Viel Zeugen ist eine gute Sache«, ruft der Russe, aus dem kleinen Dämmern seiner Erinnerung hochschreckend. Vielleicht war dieses Dämmern ja eine Art Wachtraum, das Zusammenwirken des Geruchs von Vanille und Zimt mit dem geöffneten Knopf einer Uniformjacke.
Frau Wang hat diesen Knopf mittlerweile wieder geschlossen.
»Bevölkerungspolitik ist ein Thema, das wir in einer späteren Sitzung erörtern werden«, sagt sie in einem Ton, der nur scheinbar wieder zu alter Strenge zurückgefunden hat.
GROSSE ERWARTUNGEN
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