Sehen wir recht, so weist das Neue Testament auf einen Auftrag, der in Erwartung der Wiederkunft Jesu und der mit ihr kommenden letzten Überwindung des Todes geschieht. Es leitet aber dazu an, von dieser im Kreuz Jesu schon vollendeten, in ihrer letzten Durchsetzung aber noch ausstehenden Überwindung jetzt schon zu leben, gewissermaßen ganz in Hoffnung auf sie hin ausgerichtet zu sein und Gott um Zeichen darum zu bitten, dass seine Herrschaft – verborgen und doch wirklich – jetzt schon unter uns ist. Der Titel des Buches bringt zum Ausdruck, dass Heilungen als Zeichen zu verstehen sind, die für eine kommende Wirklichkeit stehen. Das ist sehr ernst gemeint! Heilung von Krankheit ist, ebenso wie die Auferweckung vom Tode, »noch nicht« der Normalfall. Es sind Zeichen , die auf das hinweisen, was in der Vollendung einmal »normal« sein wird. Als solche Zeichen aber erbitten und erhoffen wir sie aufgrund dessen, was unser Herr uns geboten und verheißen hat.
Damit ist auch deutlich gemacht, dass Krankenheilung nie ein menschliches Unternehmen werden kann. Wir sind damit an Gott und seine Freiheit gewiesen, in der er uns seine überwindende Macht zeigen, sie aber auch vor uns verbergen kann. Keinerlei »Machbarkeit« steht uns im Sinn. Da aber Gottes Freiheit nach dem Zeugnis der Bibel in Einheit mit seiner Treue steht, gehört die Bitte um Erweis seiner Kraft mit zu den Aufgaben, die uns für unseren Dienst gegeben sind. Zur Verkündigung der Herrschaft Gottes gehört auch die Bitte, dass er die Gegenwart seiner Herrschaft bezeugen möge. Das tritt nicht zusätzlich zum Auftrag der Kirche hinzu, sondern ist wesentlicher Bestandteil ihres Dienstes. Ein Thema wie das der Krankenheilung lässt sich nicht isoliert abhandeln. Es führt in weite Zusammenhänge, die mit berücksichtigt werden müssen. Vor allem geschieht das da, wo nach einer Erneuerung dieses Dienstes für unsere Gegenwart ernsthaft gefragt wird. Erneuerung, soll sie wirklich verheißungsvoll sein, muss eine umfassende Angelegenheit werden. Darum stieß die Arbeit zu Überlegungen vor, die man auf den ersten Blick unter diesem Thema nicht vermuten wird.
Die vorliegenden Ausführungen sind bewusst nur ein »Zwischenergebnis«. Sie wollen nicht mehr sein. Darum wird um Hinweise, Anfragen und Kritik gebeten, aber auch um Bestätigung und Ergänzung, wo dies möglich und sinnvoll erscheint. Auf ein Problem soll noch besonders hingewiesen werden. Es gibt Themen, bei denen man »gefahrloser« gewagte Thesen äußern darf. Ein Buch, das von Krankheit und ihrer Heilung handelt, wird von Menschen gelesen, die selbst direkt davon betroffen sind. Wer von uns hat in seiner Nähe nicht Menschen, die uns die damit gestellten Probleme anschaulich genug vor Augen führen? Die Nähe von Krankheit zwingt zu konkreten Fragen, auf die konkrete Antworten gefordert sind. Ein Buch kann dafür nur sehr bedingt eine Hilfe sein. Jede Situation ist unauswechselbar. Eine Antwort, die für einen Fall zutreffen mag, kann für einen anderen Menschen falsch sein. Die vorliegende Arbeit will zunächst der Klärung der theologischen Fragen und der Suche nach Möglichkeiten einer erneuerten Praxis dienen. Dennoch sind in Kapitel 11 eine Reihe recht konkreter Fragen aus der Seelsorge zusammengestellt, die immer wieder in Gesprächen auftauchen. Die Antworten versuchen in die Richtung zu weisen, in die man für seine Situation zu sehen hat. Man bedenke jedoch: Solch ein Fragenkatalog kann nie komplett sein und kann auch nie auf die konkreten Probleme eingehen, in denen man selbst steht. Darum seien drei Bitten formuliert:
Bitte helfen Sie mit, den Fragenkatalog in Kapitel 11 zu ergänzen. Er soll möglichst alle Fragen enthalten, die allgemein bedeutsam sind. Bitte helfen Sie mit, indem Sie auf Lücken, Undeutlichkeiten und Missverständlichkeiten hinweisen.
Wer selbst unmittelbar betroffen ist, sei es in eigener Krankheit oder als Mensch, der einen Kranken begleitet, ist gebeten, sich einen Seelsorger zu suchen. In den bedrängenden Fragen der Krankheit sollte man nicht allein bleiben.
Für Mithilfe beim Lesen, kritische Durchsicht und Ermutigung habe ich manchen Menschen zu danken, vor allem meiner lieben Frau und Herrn Prof. Dr. Eduard Buess, dann Frau Dr. med. Verena Schlumpf, Pfr. Dr. Edgar Kellenberger sowie meinen Freunden Christoph Hilty, Pfr. Helmut Burkhardt, Pfr. Dr. Rainer Riesner, Dr. med. Stefan und Irmelin Kradolfer.
Möge das Buch dazu helfen, das Vertrauen in unseren Herrn zu stärken und von ihm zu leben. Jesus Christus ist heute derselbe, der er gestern war. Er wird auch in Ewigkeit derselbe sein.
Wolfgang J. Bittner, Liestal/Schweiz, August 1984
1. Einleitung
»Wenn ihr aber hingeht, so prediget: Das Reich der Himmel ist genaht. Heilet Kranke, wecket Tote auf, machet Aussätzige rein, treibet Dämonen aus!«
Matthäus 10,7f
»Und wo ihr in eine Stadt kommt und sie euch aufnehmen, da … heilet die Kranken, die darin sind, und saget ihnen: Das Reich Gottes ist zu euch genaht.«
Lukas 10,8f
Beide Aussagen der Bibel machen von Anfang an deutlich, dass es sich bei der Frage nach der Krankheit und ihrer Heilung keineswegs um ein Nebenthema handelt. Wir stellen damit die Frage nach dem Auftrag der Jünger und damit zugleich nach dem Auftrag der Kirche. Was hat Jesus seiner Gemeinde zu tun befohlen? Was soll sie im Namen ihres Herrn in dieser Welt ausrichten? Der Auftrag lautet: »Prediget und heilt!« Das Reich Gottes soll den Menschen im Wort der Verkündigung und in der Tat der Heilung nahe kommen. Es ist ein Auftrag, der sich in zwei Grundfunktionen teilt. Von diesen beiden Seiten des einen Auftrags ist die Gemeinde nie entbunden worden.
Teil I: Krankheit und Heilung in der Bibel
2. Krankheit im Alten Testament
2.1. Der Ausdruck »Krankheit« im Alten Testament
Der hebräische Ausdruck, der in unseren Bibelübersetzungen mit »Krankheit« wiedergegeben wird, ist in seiner Bedeutung weitreichend. Er meint ganz allgemein einen Zustand körperlicher Schwäche, die Abwesenheit der vollen Lebenskraft, die einem Menschen gewöhnlich zukommt. Damit sind also auch Zustände eingeschlossen, die wir kaum Krankheiten nennen würden, z. B. Müdigkeit und Erschöpfung. Ja, der Ausdruck umfasst jede körperliche und auch seelische Schwäche, organische Krankheiten und Verwundungen. Der alte Orient kannte bereits genaue Einteilungen von Krankheiten im Blick auf ihr Erscheinungsbild, z. B. »innere Leiden« und »chirurgische Leiden« 1. Diese Einteilungen sind aber für das Alte Testament bedeutungslos geblieben.
Bereits dieser erste Einblick ist für uns wichtig. Nach heutigen Begriffen kann ein Mensch gesund sein, doch fehlt ihm – vielleicht bedingt durch Entmutigung, seelische Verletzung oder Beschämung – das, was die Bibel die volle Lebenskraft nennen würde. Auch das ist in der Sprache des Alten Testamentes Schwächung, also Krankheit, im Blick auf die das Fragen nach Heilung aufbricht.
2.2. Der Zusammenhang von Sünde und Krankheit
Entscheidend ist für das Alte Testament, ja für die ganze Bibel, dass Krankheit und Sünde in einem unauflösbaren Zusammenhang zueinander stehen. Krankheit gehört nicht in die natürlichen Zusammenhänge der Schöpfung, sie ist Folge der Schuld und damit ein ständiges, mahnendes Merkmal unserer gestörten Schöpfungsordnung. 2Das wird uns, neben anderen Stellen, im Bericht vom Sündenfall in der der Bibel eigenen Sprache gesagt (Genesis 2,17f; 3,1ff). »Alle Störungen unseres natürlichen Lebensstandes haben ihre Wurzeln im gestörten Gottesverhältnis« (Gerhard von Rad). 3
2.3. Krankheit als Vorläufer des Todes
Damit steht uns noch ein weiterer Zusammenhang klar vor Augen. Krankheit ist nicht nur Folge der Sünde, sondern auch ein Vorläufer des Todes. Der Bruch im Verhältnis zu Gott, so sagt uns der Bericht vom Sündenfall, hat dem Tod mitten im Bereich menschlichen Lebens Raum geschaffen. Nun greift er in seinen verschiedenen Ausformungen tief in den Bereich des Lebens hinein, zeichnet und schlägt uns. Trifft uns Schwäche in irgendeiner Form, so bedeutet das für den biblischen Menschen, dass der Tod uns in einen »Zustand relativen Totseins« 4versetzt. »Das physische Sterben ist … Abschluss dieses Einwirkens der Macht des Todes. Das eigentliche Kennenlernen des Todes vollzieht sich im Verlauf des Lebens, nicht erst im Augenblick des physischen Ablebens.« 5
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