Zu dem Zeitpunkt war ich wohl nahe daran auszurasten, ja, ich glaube, das war der schlimmste Augenblick von allen, denn ich hatte keine einzige vernünftige Idee oder einen Plan im Kopf und eigentlich auch keinen unvernünftigen. Wenn da jemand vorbeigekommen wäre und zu mir gesagt hätte, spring in den Kanal, der geradewegs in die Seine führt, und da kannst du mit deiner entarteten Nachkommenschaft ersaufen, dann hätte ich das auf der Stelle getan.
Meine nächste Erinnerung ist etwas Entsetzliches. Es war, als bedürfe es irgendeines Schreckens, um mich zum Leben zu erwecken und meinen Verstand zu retten.
Durch die Kanäle begann Blut zu fließen. Es sickerte die Wände hinunter, es tropfte von den Decken, es bahnte sich seinen Weg durch die Gänge, und in der klammen Luft wirkte es lauwarm und verbreitete einen süßlichen Gestank. Die Ratten gerieten außer sich. Sie stoben umher, als sei irgendeine Naturkatastrophe geschehen. Einige von ihnen wälzten sich in dem Blut und gebärdeten sich schreiend und pfeifend, während sie darin herumrollten, so daß es nach allen Seiten spritzte. Es war eine richtige Schweinerei. Andere scheuten es, waren aber dennoch davon in den Bann gezogen, denn jedesmal, wenn sie geflohen waren, kehrten sie wieder zurück und schnupperten daran. Ich bin völlig sicher, daß bei dieser Gelegenheit eine Menge Ratten total den Verstand verloren. Und gleichzeitig tropfte das Blut immer weiter und lief als dicker Strom, der die ganze Zeit über anschwoll und immer klebriger wurde. Sein Geruch erfüllte mich mit einem Gefühl des Ekels und des überraschten Erkennens. Als ich mein Kind gebar, war das Blut, das aus mir herausgeströmt war, dünn wie Wasser gewesen, fast farblos und mit einem nicht sehr starken, doch seltsamen scharfen und säuerlichen Geruch, als sei es mit Essig vermischt. Jetzt wußte ich plötzlich wieder, was richtiges Menschenblut ist, und ich begriff auch, weshalb die Ratten so verstört waren. Ich begann eine merkwürdige Sehnsucht nach den Menschen zu empfinden, und gleichzeitig verwandelten sich der Abscheu und der Ekel, die das Blut in mir hervorgerufen hatten, in Trauer und Mitgefühl.
Ich tobte vor Trauer, denn es liegt mir nun einmal nicht, in Jammer und Elend zu versinken, doch als plötzlich in den Kanälen Menschen auftauchten, konnte ich schon merken, daß ich lange aus ihrer Welt weggewesen war.
Die Welt der Ratten ist so still und friedlich. Die Ratten flitzen lautlos umher, und die langsamen Bewegungen des Schlamms, wenn er in den Kanalleitungen dahintreibt, löst nur ab und zu ein leichtes Plätschern oder ein schwaches Brodeln aus. Aber die Menschen, die nun auftauchten, die machten vielleicht ein Theater! Sie taumelten herum wie betrunken, und obgleich sie gedämpft sprachen, klang es wie der schlimmste Lärm und Spektakel. Hinzu kam, daß sie riesig wirkten, doch das lag sicher nur daran, daß ich so viele Monate lang nur die Ratten vor Augen gehabt hatte: groß und plump, wie gewaltige Maschinen, die nicht ganz richtig zusammengeschraubt sind. Sie wußten weder aus noch ein, das war ganz deutlich – wußten nicht, wo sie hingehen und was sie überhaupt mit sich anfangen sollten. Wenn mehrere zusammen waren, begannen sie sich schnell zu streiten und teilten sich in zwei oder mehrere Parteien. Einige von ihnen gerieten in Schlägereien und ertranken, weil sie hinfielen und während der Schlägerei zu Boden gingen oder in den Fluß hinausgeführt wurden, weil sie viel zu entkräftet waren, um sich an den glatten Steinen festzukrallen. Andere machten sich zielbewußt auf den Weg, allein oder in ganz kleinen Gruppen, wurden jedoch bald durch die rätselhafte Geographie der Kanalisation verwirrt und verloren den Verstand unter dem Einfluß der unüberschaubaren Verzweigungen des schleimigen Dunkels. Schließlich gaben sie nacheinander auf und legten sich überall zum Sterben nieder, eingesperrt in einen Wahnsinn, der vielleicht irgendwie die Grausamkeit des Endes milderte.
Anfangs waren die Ratten völlig von Sinnen über diese brutale und seltsam sinnlose Störung der traditionsreichen Harmonie ihrer ererbten Welt. Bald jedoch nahmen sie eine beobachtende Haltung ein, studierten aus ehrerbietigem Abstand, wie die Streitenden einander in den Untergang trieben, lauschten den lispelnden Stimmen der Wahnsinnigen und hielten Wache bei den Sterbenden, die deshalb ihre letzte Einsamkeit von einem Kreis kleiner, glühender Augenpaare bevölkert sahen, die Stunde um Stunde näherrückten.
Und was konnte ich tun? Ich war selbst völlig gelähmt vor Entsetzen und war so lange von den Menschen fort gewesen, daß ich Angst vor ihnen hatte. Sie wirkten so unberechenbar, wer wußte, was ihnen einfallen würde? Schließlich aber nahm ich mich doch zusammen und ging zu einem hin, der sich in einer Ecke niedergelassen hatte oder dort umgefallen war und um den bereits eine Menge neugieriger Ratten einen Kreis gebildet hatten. Die scheuchte ich weg, und obgleich sie pfiffen und zischten, wagten sie dennoch nicht, mir den Gehorsam zu verweigern. Es war eine Frau, die dort lag. Ich näherte mich vorsichtig, bereit zu verschwinden, wenn sie auch nur das kleinste Zeichen von Angriffslust zeigen sollte. Doch das tat sie nicht. Sie war eingeschlafen, und ich setzte mich neben sie mit meinem Kind auf dem Arm und wartete darauf, daß sie aufwachte. Sie war sicher schrecklich ermattet, denn sie schlief sehr lange, aber zuletzt schlug sie doch die Augen auf. Da sie natürlich erwartet hatte, genauso allein zu sein wie zu dem Zeitpunkt, als sie sich hingelegt hatte, erschrak sie ein wenig, aber ich saß ganz still und begnügte mich damit, sie anzuschauen, so daß sie schnell begriff, daß ich ihr nichts tun wollte. Ich habe vergessen zu erzählen, daß sie verbunden und augenscheinlich schwer verletzt war und daß ihr Gesicht so weiß war wie eine Kalkmauer. Es war deutlich, daß sie nicht mehr lange leben würde. Ihre Augen waren zwar schwach und verschleiert, hatten aber dennoch eine seltsame Kraft in sich, und ich saß immer weiter da und schaute sie an, als sei es das erste Mal, daß ich ein Paar Augen sah. So empfand ich es auch. Denn die Augen der Ratten, von denen ich umgeben gewesen war, waren völlig anders. Dann ging mir ein Licht auf. Ihre Augen hatten nämlich überhaupt nichts Ungewöhnliches, sie waren ganz normal, so, wie Augen nun einmal sind, aber weil ich direkt aus der Gesellschaft der Ratten kam, schien es mir, daß ich diese seltsame Kraft sah, von der ich gerade erzählt habe. Ja, Pustekuchen! Ich kann mir vorstellen, daß sie vielleicht Fleischersfrau oder so etwas gewesen ist, jedenfalls war sie sehr einfach gekleidet, und ihre Hände – ja, nun war sie natürlich so entkräftet, daß sie einfach nur dalagen – waren solche Pranken, wie man sie von harter Arbeit bekommt.
Aber sehen Sie, mit den Ratten ist das so, sie sind zwar mutig, und sie helfen auch einander, so, wie ich es erzählt habe, und opfern sich freudig für die gemeinsame Sache, wenn es sich als unumgänglich erweist, aber sie waren schreckeinflößend. Sie waren zu vollkommen, kann man schon sagen. Sie hatten etwas Metallisches an sich. Sie hielten zusammen, aber sie mochten sich dennoch nicht, und selbst ihre Todesangst war merkwürdig taub, als sei sie eher eine Art Krankheit des Nervensystems. Aber die Frau hier, die hatte Angst, und das verstehe ich gut, so, wie ihre Lage war. Sie hatte Angst vor dem Sterben. Und genau das konnte ich ihr ansehen. Und ich konnte ihr ansehen, daß sie dankbar war, daß ich da war, obgleich ich ja nicht das geringste tun konnte. Oje, das war schrecklich! Sie lag da und starb mir ganz langsam unter den Händen weg, und ich konnte sie nur ansehen. Sie war zu schwach, um zu sprechen, sie konnte also nicht sagen, woran sie dachte. Vielleicht hatte sie Mann und Kinder, vielleicht lebten ihre Mutter und ihr Vater noch, vielleicht wollte sie einen Priester zum Beichten? Was weiß ich! Ich redete ein bißchen zu ihr, fast wie zu einem Kind, das man beruhigen und trösten will, und ich schwöre, daß ich sie nun schon genauso mochte, als wäre sie mein eigenes kleines Kind gewesen. Das Schlimme war nur, daß sie nicht die einzige war. Ich wußte, daß rund umher andere lagen, denen es ebenso schlimm oder vielleicht sogar noch schlimmer erging. Ab und zu hörte ich jemanden um Hilfe rufen, dann hatte ich die größte Lust, zu ihnen hinzueilen. Aber nein, das konnte ich nicht übers Herz bringen, ich konnte die, bei der ich saß, nicht verlassen. Die Rufe wurden immer schwächer, vermutlich sind sie ja alle im Dunkeln krepiert.
Читать дальше