Na, das aber war also der Grund: Ich hatte mir zwar so einen freien Abend genommen und ließ meine Gedanken zur Ruhe kommen und versuchte, dieses Flußbett zu werden, das die Dinge dahinströmen läßt, ohne einen Unterschied zu machen, ohne zu verschmähen und zu verwerfen, ohne zu verurteilen, ohne mich vor ihnen zu ängstigen oder mich darüber aufzuregen, um ein so blanker und lebendiger Spiegel zu werden, wie es die Sterne nun einmal verlangen – hören Sie, bin ich nicht poetisch? So war es tatsächlich –, jedoch wollte es mir letzten Endes nicht wirklich gelingen.
Das ist aber auch der verdammte Krieg, sagte ich zu mir. Weshalb habe ich mich nicht in Wien oder in London oder in Rom niedergelassen – irgendwo, wo kein Krieg ist. Und weshalb sitze ich hier in Paris in der Falle und tanze mir die Füße blutig für diesen verdammten Pöbel, auf ihrem harten Pflaster, statt irgendwo auf den glatten Brettern einer Bühne aufzutreten, hinter deren strahlendem Rampenlicht ich die Minister, Fürsten und Generäle des Parketts und diese Damen da ahnen kann, deren Köpfe allesamt berühmten Skulpturen ähneln, wie man sie jedes Jahr im Salon sieht, weil das Haar hochgekämmt ist und so einen Aufsatz bildet, der auf dem Kopf ruht und ihn verlängert – nur mit dem Unterschied zu den Skulpturen, daß sie die Köpfe mit kleinen, nicht sehr ausladenden Bewegungen bewegen und verwundert mit den Augen zwinkern und kleine, lebendige Singvögel in ihren Kehlen eingebaut haben, die ansonsten genauso glatt und rein in den Linien sind und ohne eine einzige Falte wie das feinste, glatte, polierte Marmor. Trotz allem liebe ich es ja, wenn sie klatschen, das will ich gern zugeben, wenn ich so über einen Saal hinausblicke, der siedet und braust, und der Beifall mir gilt und wenn ich das Licht in den Juwelen und in den Orden blitzen sehe, dann friert es mich den Rücken entlang, ich friere vor Glück und fühle mich stark wie eine Zauberin, die ihre ganze Stadt verhext hat und sie in der Hand hält.
Na, nun verliere ich gewiß den Faden, aber was ich sagen wollte, war also, daß ich mich da so fragte, was eigentlich der Sinn der ganzen Sache sei, und insbesondere, was der Sinn der Tatsache sei, daß ich mit den Untersten zusammen in die Falle gegangen war, wenn ich ebensogut – wenn ich nur rechtzeitig nachgedacht und daran gedacht hätte, was meinem eigenen Besten diente – mit den Oberen hätte meinen Spaß treiben können. Denn gleichgültig, wie man es dreht und wendet, letztlich ist sich ja ein jeder selbst der Nächste, nicht wahr? Und dennoch konnte ich nicht bereuen. Ich konnte meine eigene Dummheit verfluchen, und das tat ich auch, aber bereuen konnte ich nicht. Nein, da war nichts zu machen. Ich hatte mich den Unteren verschrieben.
So stand mein Schicksal vor mir, während ich da an der Seine entlangging und mit mir abrechnete und der Tatsache ins Auge sah, daß meine Karriere vorbei war, daß ich aus dem Sumpf, in den ich gesunken war, nie mehr hochkommen würde, daß ich höchstwahrscheinlich auf die eine oder andere Weise zugrunde gehen würde – denn entweder würde ich irgendwann erschossen werden, und damit Schluß, oder meine Aussichten waren allem Anschein nach für alle Zukunft verdorben, weil ich mich mit dem Pöbel gemein gemacht hatte; und sollte es wirklich nicht der Fall sein, wo sollte ich da die Kraft hernehmen, um hinterher weiterzuleben, in neuen Singspielen oder lächerlichen Komödien aufzutreten, die Kraft, an irgend etwas dessen, was danach kommen würde, zu glauben. Es kam mir nämlich so vor, als hätte ich in den letzten Wochen mehr Kraft verbraucht als in meinem gesamten bisherigen Leben, und ich hatte mich doch eigentlich nicht geschont. Ja, in meinem kleinen Körper hatte ich Reserven entdeckt, das kann man schon sagen, ich war in unbekannte Tiefen hinabgetaucht, die sich mir eröffnet hatten, und hatte ihnen unentdeckte Schätze entrissen, mit dem Ergebnis, daß ich jeden einzigen Morgen mit dem merkwürdigen Gefühl erwachte, neu geboren zu werden. Aber mir war völlig klar, daß das nicht dauern konnte. Eines Tages würde ich verschlissen sein. Seltsamerweise störte mich das nicht im geringsten. Soll ich mit den Unteren zugrunde gehen, so tue ich es eben, sagte ich zu mir, und dann dachte ich nicht mehr darüber nach.
Ich wurde durch ein Flüstern aus meinen Gedanken und Träumereien geweckt. Es war, als riefe mich jemand, und mein erster Gedanke war, daß irgendein hungriger Nationalgardist gerade jetzt, wo ich hier unten am Kai Ruhe gesucht hatte und nun aus der Dämmerung unter der Brücke – denn ich ging gerade unter einer der Brücken hindurch – die Frau entdeckt hatte, die einsam da vorbeiging, und deshalb von einem noch größeren Hunger gepackt worden war und mich deshalb anrief, damit sie ihr Elend miteinander teilen konnten. Ich zögerte. Ja, durchfuhr es mich, ich will in das Dunkel hineingehen. Ich habe nach Parfüm duftende Männer hinter den schweren Seidenportieren pompöser Himmelbetten umarmt; ich habe die blanken Knöpfe in stramm sitzenden Uniformen gezählt und, während ich mich hinter einem Schirm entkleidete, das Klirren des Säbels gehört, der auf einen Tisch gelegt wurde; meine kleine Hand hat die Zunge eines schweißigen Theaterdirektors geführt – ja, Sie wissen schon, was ich meine! –, weil er Schwierigkeiten hatte und so gerne wollte; all das und noch viel mehr habe ich getan, weshalb sollte ich also jetzt nicht in das Dunkel hineingehen, wo die Erde hart ist wie Stein und wo mich vielleicht irgendein zerlumpter Nationalgardist erwartet, der eine Fahne von billigem Wein hat und unter dem Arm nach Schweiß stinkt und dessen Gesichtszüge ich im Dunkeln noch nicht einmal unterscheiden kann?
Nachts sind alle Katzen grau, sagt man ja, und ich möchte gerne für mich selbst hinzufügen, wenn man beschlossen hat, in das Nachtdunkel hineinzugehen, dann kann man durchaus sicher sein, daß es noch dunkler ist, als man geglaubt hatte, und es kann leicht alle möglichen Überraschungen bergen. Denken Sie nur an Thor, der vor der Nacht Schutz in einer Höhle oder in einem Haus mit reichlich Platz gesucht hatte und am nächsten Morgen entdeckte, daß es sich um den einen Handschuh eines fürchterlichen Riesen handelte. So kann es einem gehen, wenn man absolut in das Dunkel hineinspazieren möchte, und hinterher nützt es gar nichts, wenn man sich beklagt. Ich hörte dieses Flüstern noch einmal, als riefe mich jemand, und nun war mir aus irgendeinem Grund klar, daß es kein Nationalgardist war. Da ich immer für alles zu haben gewesen bin, trippelte ich also entschlossen näher, und ich sage Ihnen – das war jedenfalls kein Nationalgardist!
Die Mauer dort unter der Brücke ist aus gewaltigen Steinen erbaut, großen Quadern, die nur roh zugehauen und übereinandergestapelt sind, so daß es aussieht wie ein Bauwerk aus irgendeiner Urzeit oder aus einer Zeit, wo diejenigen, die regierten und solche Mauern aufführten, rücksichtslose und grausame Tyrannen waren, die sich vor ihren Untertanen in Gebäuden schützen mußten, die am ehesten noch an Gefängnisse erinnerten. Mitten in dieser Riesenmauer ist da ein Tor, nein, eine Öffnung, denn sie ist mit einer so kräftigen Gittertür verschlossen, daß sie aussieht, als könne sie tausend Jahre halten.
Aus dem Loch kommt auch ein tausendjähriger Gestank – ein Gestank von Schlamm, der so alt ist, daß man glauben sollte, er stamme aus der Zeit, als Noah mit der Arche herumschwamm und die Wasser endlich sanken; das muß ein fürchterlicher Anblick gewesen sein, so ein Modder! –, ein Gestank von Schimmel und Verwesung und von Exkrementen, die, so sollte man glauben, jahrhundertelang in langsam dahingleitenden Wassern wie auf großen Ozeanen herumgetrudelt waren. Dann ist der ursprüngliche scharfe Gestank längst verschwunden, aber etwas anderes ist an seine Stelle getreten, na, und viel mehr, was sich unmöglich mit Worten beschreiben läßt. Und dann muß man bedenken, daß es dort immer klamm ist. Als ich da also im Dunkeln stand und das Gitter angelehnt war, da bekam ich diesen kalten, klammen Luftstrom – mit allen Gerüchen, die ich gerade eben beschrieben habe – geradewegs ins Gesicht, und er legte sich auch um meinen Körper, so daß ich vom Scheitel bis zur Sohle zu zittern begann, und eine Stimme in mir sagte, kehr um, kleine Camilla, kehr um, bevor es zu spät ist! Doch auf diese Stimme (ich kannte sie nämlich sehr gut) habe ich nie gehört, deshalb kommt es mir auch so vor, als hätte ich nicht nur meine fünfundsiebzig Jahre gelebt, sondern dreimal fünfundsiebzig Jahre oder mehr.
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