1 ...7 8 9 11 12 13 ...39 „Und ich führ’ den Bären!“ rief Penny, und da mußten wir alle lachen.
„Nein, den Bären lassen wir als Überraschung hier, oder er radelt voran.“ Gerade setzte die Musik wieder ein, und wir rannten schleunigst auf unsere Plätze.
Es kamen noch Bodengymnastik, Trampolinspringen und noch mal die Ponys. Diesmal mußten sie auf zwei Beinen laufen, was ja bei Pferden immer toll aussieht.
Und dann kam Marfa, der Schlangenmensch. Marfa trug nur einen ganz knappen, glitzernden Badeanzug und fing an, sich zu verrenken, auf den Händen zu stehen und dabei die Beine über die Schultern zu rollen. Es war eigentlich ganz unmöglich, daß ein menschlicher Körper derartige Verschlingungen fertigbrachte. Und Marfa machte dabei ein so freundliches und höfliches Gesicht, daß man sich gar nicht vorstellen konnte, wie giftig sie gewesen war, als wir den Ponys Mohrrüben brachten. Sie bekam viel Beifall, und dann trat die ganze Familie zusammen auf. Sie warfen einander die Kleinsten zu, fingen sie auf, ließen sie auf der Handfläche stehen und sich verbeugen, rollten und kugelten, und zuletzt kam die ganz große Pyramide.
Der Zirkusdirektor stand in der Mitte, seine Frau schwang sich auf seine Schulter, darauf kamen zwei kleine Mädchen, und die beiden großen Söhne, Laila und Marfa machten auf allen vier Seiten Handstand, wobei sie die Füße gestreckt an den Vater lehnten. Während die Familie so dastand, kam der Kleinste gelaufen, wieder mit dem Schnuller im Mund, und fing an, am Vater emporzukraxeln, immer höher, bis zur Mutter, auf deren Kopf er endlich stand.
Dies sei nur in diesem Zirkus zu sehen, sagte der Direktor, als die anderen abgesprungen waren und sich verneigten, insofern sei er, wenn auch klein, der sensationellste Zirkus der Welt. Wir klatschten wie besessen. Zum Schluß lief ein Hund rundum bei den Zuschauern auf zwei Beinen; er hatte einen Hut im Maul, und jeder warf eine Münze hinein.
Wie betrunken und taumelig vor Müdigkeit, machten wir uns schließlich auf den Heimweg, rechts und links bei Rupert eingehakt, über die Höhe zum Dorf hin. Wir brauchten uns nicht zu beeilen, Tante Trullala und Onkel Albrecht wußten ja, daß Rupert dabei war, und so konnten wir alles noch mal durchsprechen und uns einig darüber werden, wer was am schönsten fand. Es war ein wunderbarer Tag gewesen, und wir freuten uns schon auf den nächsten. Bei Rupert bedankten wir uns immer wieder, mit ihm zusammen ist alles immer schöner, er ist wirklich wie ein ganz, ganz guter großer Bruder. Ich sagte das, und da wurde er ein bißchen ernst.
„Ja, Bruder“, sagte er und faßte uns fester in den Arm, uns alle beide, „ich hatte auch mal eine Schwester.“
Hatte? Wir schwiegen beide, man kann doch nicht fragen: Ist sie tot? Dann aber fuhr er von selbst fort.
„Ja. Sie vertrug sich mit meinen Eltern nicht gut, und eines Tages ging sie einfach weg. Später haben wir dann gehört, daß sie geheiratet hat, nach Amerika – durch Bekannte erfuhren wir es. Aber heimgekommen ist sie noch nicht wieder. Ich hab’ mir vorgenommen, sobald ich genug Geld zusammengespart habe, fliege ich in die Staaten und suche sie. Ich weiß ja, wie traurig meine Eltern darüber sind. Deshalb arbeite ich ja auch in den Ferien und verdiene mir Geld. Onkel Albrecht bezahlt mich gut. Und die Tage, an denen ihr nicht hier seid, werde ich tüchtig ausnutzen.“
Auch in Ruperts Leben, der doch so gern lachte, gab es also Trauriges. Ich hätte ihn so gern getröstet, aber wie?
„Du findest sie bestimmt“, sagte ich schnell, und er nickte mir zu. Dann aber fragte er, ob wir nicht Bella und Boss beibringen wollten, auf zwei Beinen zu laufen und den Hut im Maul zu tragen. Dann könnten wir doch bei jedem Besucher, der zu Tante und Onkel kommt, Geld sammeln und für den Zirkus geben. Ob das nicht eine gute Idee wäre.
Penny meinte etwas nachdenklich, so schnell lernten Hunde das vielleicht nicht, denn der Zirkus ziehe ja bald schon weiter. Aber da machte Rupert ein geheimnisvolles Gesicht und sagte: „Vielleicht doch nicht so bald ...“
„Sag, wieso!“ drängelten wir und hatten im Augenblick vergessen, was er von seiner Schwester gesagt hatte. Dann rückte er damit heraus, daß der Zirkus vielleicht – vielleicht! –, wenn der Bürgermeister nichts dagegen hatte, sein Winterquartier hier in Hohenstaufen aufschlagen würde, denn im Winter zögen die Zirkusse nicht herum. Wir waren begeistert.
„Den ganzen Winter?“ fragten wir, und er tat ganz entsetzt und meinte, nun habe er doch verraten, was er uns nicht sagen sollte, und wir sollten es uns ja nicht fest einbilden oder gar herumreden ...
„Aber ‚hoffentlich‘ dürfen wir doch denken?“ sagte Penny abschließend, als wir am Haus angekommen waren. Das dürften wir, meinte Rupert. „‚Hoffentlich‘ darf man immer denken“, sagte er, und ich merkte, daß er damit nicht nur den Zirkus meinte. Aber ich sagte nichts, ich gab ihm nur ganz, ganz fix einen Kuß auf die Backe; das hatte ich bis dahin noch nie getan. Und dann bin ich die Treppe hinaufgelaufen und hab’ nur „Gut’ Nacht!“ zurückgerufen, und erst oben fiel mir ein, daß wir ja jetzt in der Werkstatt wohnen. Da bin ich umgekehrt und wieder hinuntergegangen, und die beiden haben mich schrecklich ausgelacht, ob ich etwa Onkel Albrecht oder Tante Trullala aus dem Bett gescheucht hätte – aber ich hatte es schon im Flur gemerkt. Es war wirklich ein aufregender Tag gewesen, wir fielen wie die Steine ins Bett. Und vielleicht würden wir morgen wieder ...
Mit diesem Gedanken müssen wir eingeschlafen sein alle beide, denn ich erinnere mich an nichts mehr, was wir gesprochen haben, und Penny ging es genauso.
Meist folgen auf aufregende Tage langweilige, so jedenfalls hab’ ich es oft erlebt. Aber auch der nächste Tag fing gleich mit etwas Aufregendem an: Tante Trullala kam an unser Bett und sagte, sie habe eine große Bitte an uns. Ob wir ihr einen Gefallen tun wollten.
„Natürlich, was denn?“ fragten wir und dachten an Beete umgraben oder Komposterde ausbuddeln oder so was, was man ja nicht so gerne tut, aber es war etwas ganz anderes. In einer kleinen Stadt im Remstal, vielleicht zwölf Kilometer von Hohenstaufen entfernt, gäbe es eine sehr nette Forstmeistersehefrau, die hatte Tante Trullala eben angerufen. Sie hätte eine Bitte.
„Was will sie denn?“ fragten wir neugierig. Tante Trullala setzte sich auf die untere Bettkante und fing an zu erzählen.
„Diese Frau Forstmeister Engel hatte schon mehrmals Rehkitze aufgezogen, überhaupt allerlei Getier, das die Leute ihr brachten. Einmal ein Eichhörnchen, einmal sogar zwei Wildschweine, Frischlinge nennt man die in der Jägersprache, und fünf Rehkitze. Immer wieder werden Rehkitze von unvernünftigen Leuten angefaßt und mitgenommen, obwohl überall und überall Schilder stehen: ‚Hände weg vom Jungwild‘. In der Zeitung wird davor gewarnt und in der Schule auch. Hat man sie auch nur angefaßt oder gestreichelt, so nehmen die Mütter sie nicht mehr an. Und dann verhungern sie, oder der Fuchs holt sie. Es gibt auch immer wieder Kitze, die angemäht werden, früher von Sensen, jetzt von Mähdreschern. Sie verlieren einen Lauf und müssen elend umkommen. Wenn man diese Tiere mitnimmt, ist es natürlich etwas anderes. Das Rehkitz, das sie diesmal im Haus haben, ist gesund, nur ...“
Und jetzt kam es. Frau Engel und ihr Mann und die große Tochter waren zu einer Taufe eingeladen, und nun suchten sie jemanden, der sich während der zwei Tage, die sie weg waren, um das Rehkitz kümmerte. Auch um die Hunde, aber die könnte man notfalls immernoch Bekannten anvertrauen. Sie wüßte jedoch niemanden, der für zwei Tage ins Haus käme und das Reh versorgte. Ob Tante Trullala nicht ... Na, da brauchte sie nicht weiterzusprechen!
„Dürfen wir?“ riefen wir beide wie aus einem Mund, und Tante Trullala nickte und sagte, sie habe der Forstmeisterin gleich zugesagt. Heute schon? Heute schon! Herrlich, wir sprangen aus den Betten.
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