Das Verdienst von Zeiss erleidet aber keine Einschränkung durch den Umstand, daß der gleiche Gedanke gerade auf dem Gebiet der Optik, und an einem dem Mikroskop so nahe verwandten Ding, wie das Fernrohr ist, schon 40 Jahre vorher mit Erfolg betätigt worden ist. Denn die genauere Würdigung aller sachlichen Momente führt zu der Einsicht, daß diese frühere Betätigung durch Fraunhofer zwar wohl einen Wink für die Anwendung der gleichen Grundidee auch dem Mikroskop gegenüber gegeben hat, aber kein irgendwie leitendes Vorbild für die Verwirklichung hat bieten können — trotz der Gleichheit des Arbeitsfeldes und trotz der scheinbaren inneren Verwandtschaft der Aufgaben. Dieser auf den ersten Blick befremdliche Schluß beruht auf einem erst viel später [7]erkannten Gegensatz der beiden Grundprobleme der praktischen Optik, des Fernrohr-Problems und des Mikroskop-Problems, im Theoretischen sowohl wie in wesentlichen praktischen Bedingungen — einem Gegensatz, der es mit sich bringt, daß die Aufgabe der rationalen Darstellung, auch nachdem sie für das Fernrohr gelöst war, für das Mikroskop doch einen neuen, selbständigen Ansatz nehmen mußte, keine Übertragung des Verfahrens zuließ [8].
Da ich auf die Rechtfertigung dessen in meinem Vortrag nicht näher eingehen darf, begnüge ich mich zur Erhärtung des Gesagten mit dem Hinweis auf eine äußere Tatsache, aus der hervorgeht, wie weit der Gedanke von Carl Zeiss dem Bewußtsein gerade seiner Fachgenossen fern gelegen hat — nicht nur zur Zeit als jener ihm nachzugehen begann, sondern noch viel später. Denn noch vor etwa 15 Jahren, also zu einer Zeit, als längst alle Dampfmaschinen und alle Eisenbahnbrücken nach Fraunhoferscher Art gebaut wurden, konnte behauptet werden: die Mikroskope könnten auf diese Art nicht gebaut werden, und ein angesehener und unterrichteter Schriftsteller der Mikroskopie, der einem der besten Optiker der alten empirischen Schule persönlich nahe stand und daher das Arbeitsfeld kannte, konnte daraufhin die Richtigkeit der Angabe: daß sie hier in Jena seit 10 Jahren so gebaut würden, auch öffentlich in Zweifel ziehen. Auch ist es noch gar nicht so lange her, daß in den Augen vieler beim Mikroskop der Anspruch auf eine höhere Wertschätzung seitens der Vertreter der alten empirischen Schule noch mit der Erklärung begründet werden konnte: von ihnen werde es nicht wie in Jena gebaut. Erst seit etwa 10 Jahren ist die umgekehrte Versicherung: es werde genau wie in Jena gebaut, allgemein die Stütze für den Anspruch auf die höhere Schätzung geworden — wiederum Beweis dafür, daß die Idee des neuen Arbeitsplanes und die Möglichkeit ihrer Würdigung außerhalb des Gesichtskreises der Zeitgenossen lag.
Die Geschichte unserer Werkstätte ist nun hinsichtlich des ersten 30jährigen Abschnittes grundlegender Tätigkeit und zum Teil noch über diese Zeit hinaus nichts anderes als die Geschichte der Bestrebungen, in welchen jener Gedanke einer neuen, anders geregelten Art des Ineinandergreifens von Wissenschaft und Technik an den Aufgaben der Mikroskop-Optik sich betätigt und allmählich verwirklicht hat. — Die vorher zur Sprache gebrachten Umstände aber: einerseits die historische Priorität Fraunhofers hinsichtlich der erstmaligen Einführung dieses Gedankens in die Optik überhaupt, anderseits die eben betonte innere und äußere Selbständigkeit seines nochmaligen Auftretens gegenüber einer anderen Aufgabe des gemeinsamen Arbeitsfeldes — diese Umstände bringen es mit sich, daß in meiner weiteren Betrachtung das hiesige Geschehen überall in Vergleich treten muß mit der Tätigkeit Fraunhofers. Ich muß so das Wirken meines verstorbenen Freundes heranrücken an die phänomenale Figur, die auf dem gleichen Arbeitsfeld aus einem armen Münchener Spiegelschleifer im Anfang dieses Jahrhunderts herausgewachsen ist. In der Nähe dieser Figur muß allerdings manches kleiner sich ausnehmen, was, in der gewöhnlichen Umgebung gesehen, mit weniger abnormem Maßstab gemessen, größer erscheinen würde. Es gibt aber gar keinen anderen Standpunkt für eine richtige Würdigung der Lebensarbeit von Carl Zeiss, als ohne Scheu vor diesem Maßstab ihre Erfolge in Parallele zu setzen zu dem Wirken des größeren Vorgängers — obwohl, nachdem die geschichtliche Nachforschung auch auf die Einzelheiten dieses Wirkens Licht geworfen, jetzt an manchen Punkten mit bezug auf ihn zu sagen ist: mutato nomine fabula de te narratur — unter anderem Namen die Geschichte von Dir erzählt!
Es handelt sich nämlich hier um einen Parallelismus in den Dingen selbst, durchaus vergleichbar einer Erscheinung, die in der lebenden Natur öfters uns entgegentritt. Wie etwa das Wirbeltierauge in ganz verschiednen Tierreichen, ohne genealogischen Zusammenhang der Entwicklung, sich wiederholt, und, irgendwo entstanden, immer wieder die gleichen typischen Formen durchläuft, nur in Nebensächlichem modifiziert durch die Verschiedenheit der äußeren Bedingungen — so hat in unserem Interessenkreis die vorhin dargelegte Idee des verstandesmäßigen Aufbaues künstlicher Gebilde an zwei getrennten Stellen unabhängig eingesetzt, nur übereinstimmend in der Zweckbeziehung auf die Wirkungen des Lichts, und hat einen ganz parallelen Gang der Entwicklung durchlaufen, in den Abweichungen nur die Verschiedenheit des Ausgangspunktes und der die Entwicklung begleitenden Nebenumstände bekundend.
Es hat nämlich die konsequente Verfolgung der zuvor charakterisierten Idee in ihren beiden getrennten Gängen nicht nur im allgemeinen zu gleichartigem Endergebnis geführt — zu einem bedeutenden und dauernden Fortschritt in der Leistungsfähigkeit und Vollkommenheit der Erzeugnisse — dort des Fernrohrs, hier des Mikroskops — sondern der Weg des Gelingens zeigt auch hier dieselben charakteristischen drei Etappen wieder, durch die er bei Fraunhofer hindurchgegangen ist: als ersten Schritt die Reform der Technik der praktischen Optik, die Vervollkommnung der Methoden technischer Arbeit, als zweiten die Vertiefung und Ergänzung der theoretischen Grundlagen, welche die Behandlung der Aufgabe brauchte, und als letzten die Reform der praktischen Grundlagen, der Bedingungen für die Beschaffung des Urmaterials, des optischen Glases. Die Wiederholung dieser drei Stufen des Fortgangs in gleicher Reihenfolge ist aber durchaus nicht auch im Sachlichen eine Wiederholung dessen, was Fraunhofer im Verfolg seiner besonderen Aufgabe schon getan hat — so daß etwa, nachdem inzwischen die Tätigkeit Fraunhofers im ersten Viertel des Jahrhunderts genauer bekannt geworden, jetzt zu sagen wäre: wie schade, daß dasselbe zweimal hat getan werden müssen! Ganz im Gegenteil, die Wiederholung desselben Entwicklungsganges von einem ganz anderen Ausgangspunkt aus — nämlich vom Mikroskop-Problem — führte in allen wesentlichen Punkten zu wichtigen und unentbehrlichen Ergänzungen der Fraunhoferschen Arbeit in denjenigen sachlichen Momenten, die von seinem Ausgangspunkt aus nicht in den Gesichtskreis der Aufgabe eintreten konnten — so daß man vielmehr sagen muß: das nochmalige Einsetzen desselben Grundgedankens an einer anderen Sonderaufgabe der Optik und das nochmalige selbständige Durchlaufen aller seiner Konsequenzen von dem neuen Ausgangspunkt aus ist direkt notwendig gewesen, um diesem Grundgedanken eine vollständige, das ganze Feld der praktischen Optik beherrschende Entwicklung zu ermöglichen. Und das verleiht nun dem Wirken von Carl Zeiss neben Fraunhofer eine selbständige Bedeutung.
Ich kann hier nicht auf die einzelnen Etappen des gemeinsamen Entwicklungsganges eingehen, kann also auch nicht dartun, warum die vorher bezeichneten drei Fortschritte notwendige Postulate der Verwirklichung der Idee sind, warum vermöge des gegensätzlichen Charakters des Grundproblems in Hinsicht auf das Mikroskop andere, neu zu lösende Aufgaben vorlagen. Alles das muß ich der Vervollständigung dieses Vortrages bei seiner Drucklegung vorbehalten [9].
Читать дальше